Die Bilder waren so eindrücklich, dass sie gleich wieder präsent sind: ein Vater, der in einer Garage wie von Sinnen auf seinen Sohn einprügelt; ein zweiter Junge, der mit einem Spaten auf den Kerl einschlägt. 15 Jahre später erwacht der Vater aus dem Koma, und schon das wäre eine Geschichte für sich: was das für ein Schock sein muss, wenn das Spiegelbild einen alten Mann zeigt. An den Vorfall in der Garage kann sich Roland Schürk (Torsten Michaelis) nicht mehr erinnern, und das ist auch gut so: Sohn Adam (Daniel Sträßer) und dessen bester Freund, Leo Hölzer (Vladimir Burlakov), sind Polizisten geworden.
Das ist zwar nur die Rahmenhandlung des zweiten Films mit dem jungen Saarbrücker "Tatort"-Team, aber sie sorgt dafür, dass sich die beiden Kommissare in einem Schwebezustand der Ungewissheit befinden: Sie haben die schwere Verletzung von Schürk senior damals als Unfall hingestellt. Würde der Alte sie anzeigen, droht ihnen eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags und Mitwisserschaft.
Während die horizontal erzählte private Ebene in anderen Krimireihen auch schon mal lästig war und nichts zur Wahrheitsfindung beizutragen hatte, ist das hier ganz anders: Hendrik Hölzemann, Autor auch des ersten Falls ("Das fleißige Lieschen", 2020), hat nicht nur die Vorgeschichte mit großem Geschick integriert. Eine kühne Volte sorgt zudem dafür, dass ausgerechnet der alte Schürk maßgeblich in den aktuellen Fall verwickelt ist.
Im Wald wird die Leiche einer Schülerin gefunden. Jessi (Caroline Hartig) war hübsch und hatte ein sonniges Wesen, sämtliche Mitschüler waren in sie verliebt, allen voran zwei Jungs (Julius Nitschkoff, Aaron Hilmer), die zur Tatzeit im Wald waren, weil sie als militante Tierschützer Hochsitze zerstört haben.
Die Mordumstände und die Fallanalyse wecken in der jungen Ermittlerin Pia Heinrich (Ines Marie Westernströer) jedoch die Überzeugung, dass es sich um einen Serienmörder handeln muss. Tatsächlich findet sie raus, dass vor Jahren in Frankreich und Italien ganz ähnliche Taten begangen worden sind. Schließlich stößt das Team auf die Spur eines Franzosen (Vladimir Korneev), der als Einsiedler mitten im Wald in einer Felsenhöhle lebt. Die Lösung ist allerdings eine ganz andere, und sie führt zu einem Finale, das in seiner Erbarmungslosigkeit für junge Zuschauer keineswegs geeignet ist.
"Der Herr des Waldes" hätte das Zeug zu einem überdurchschnittlich guten Sonntagskrimi, zumal Christian Theede, Regisseur auch des Auftaktfilms, und Kameramann Tobias Schmidt viel Mühe auf eine besondere Bildgestaltung verwendet haben. Ausgerechnet darin liegt eine Schwäche des Films: weil diese Absicht in zu vielen Einstellungen deutlich wird.
Einige Male sorgen die ungewöhnlichen Perspektiven für optische Abwechslung, wenn Schmidt beispielsweise das Spielgeschehen beim Tischfußball durch einen Glasboden filmt, aber oft wirken sie bloß um Originalität bemüht. Ähnlich übers Ziel hinaus schießt in einigen Szenen die an sich gute Musik (Dominik Giesriegl, Florian Riedl), die in diesen Momenten wie eine Leihgabe aus einem Superhelden-Actionkracher klingt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das größere Manko des Films ist jedoch darstellerischer Natur: Eigentlich müsste der als Kind traumatisierte Adam Schürk Mitgefühl wecken, doch das gilt fast eher für den um Vergebung bittenden Vater. Das Maskenbild hat Daniel Sträßer ein paar verwegene Abenteurer-Haarsträhnen in die Stirn gelegt; genauso starr ist auch sein weitgehend auf grimmige Blicke und mahlende Kiefer reduziertes Spiel. Das erweckt mitunter den irritierenden Anschein, als habe sich der junge Lars Eidinger in ein zweitklassiges B-Movie verirrt.
Weniger wäre mehr gewesen, und das gilt nicht nur für Kamera, Musik und den Hauptdarsteller; die Zickereien zwischen dem Team (Brigitte Urhausen ist die Vierte im Bunde) sind unplausibel und überflüssig. Nicht sonderlich glaubwürdig ist auch Anna Böttcher als Rechtsmedizinerin. Imposant ist dagegen die Leistung von Vladimir Korneev in seiner stummen und gerade deshalb ausdrucksstarken Rolle als Titelfigur. Nicht minder prägnant war der Schauspieler mit den markanten Gesichtszügen zuletzt in einem "Kroatien-Krimi" ("Tränenhochzeit", 2020) und zuvor als indigener Zirkusartist in dem Auswanderer-Epos "Der Club der singenden Metzger" (ARD, 2019).
Dass der "Tatort" unterm Strich dennoch sehenswert ist, liegt vor allem an Struktur und Konzept. Sehr gelungen ist beispielsweise die Einführung, die nicht nur die handelnden Personen skizziert, sondern auch erste falsche Fährten legt: Jessi, die sich voller Vorfreude zurechtmacht; ein Vater (Kai Wiesinger), der mit seinem Sohn (Oscar Brose) zum Schachspiel verabredet ist; die zwei Jugendlichen im Wald und ihre Devise "Wenn du was willst, dann nimm’s dir"; dazu die dumpfe Musik, die das sich anbahnende Grauen vorweg nimmt; und schließlich Jessis gellender Schrei, als sie von einem Pfeil getroffen wird.
Gerade die Waldbilder sind Schmidt zudem außerordentlich gut gelungen, zumal sich die Titelfigur mit hohem Tempo und traumwandlerischer Sicherheit zwischen den Bäumen bewegt. Sehr bedrückend sind wiederum die Rückblenden in die Jugend von Adam Schürk. Hier hat Theede die Maxime "Weniger ist mehr" beherzigt: Noch intensiver als die Prügelszenen sind die rein akustischen Erinnerungen.
Filmisch beeindruckend und sehr effektvoll ist außerdem die Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit beim Finale. Umso bedauerlicher, dass der Cliffhanger, mit dem die Geschichte endet, ein bisschen plump inszeniert ist; und dass die beiden Kommissare auf dem Weg zum Showdown erklären müssen, wie alles mit allem zusammenhängt, spricht nicht gerade für ein großes Vertrauen in die Fähigkeiten des TV-Publikums.