Ein Mangel an Spannung galt allerdings auch schon für den letzten Fall, den der mehrfache Grimme-Preisträger Andreas Kleinert ("Verlorene Landschaft", "Wege in die Nacht") mit Udo Wachtveitl und Miroslav Nemec gedreht hat: "Freies Land" (Nummer 78, 2018) war ein zwar interessanter, aber nur mäßig spannender Provinz-"Tatort", der die Münchener Kommissare im Milieu der Reichsbürger ermitteln ließ.
Auch diesmal macht das Duo wieder eine Reise, nun jedoch in die Vergangenheit. Der Film beginnt mit Nostalgie: 1984 erleben zwei Männer und eine Frau eine innige Menage à trois am portugiesischen Strand. Kameramann Johann Feindt, der seit 20 Jahren regelmäßig mit Kleinert zusammenarbeitet und unter anderem auch für die Bildgestaltung zu dessen bewegendem Alzheimer-Drama "Mein Vater" (Grimme-Preis 2003) verantwortlich war, trifft die nostalgische Stimmung mit Sommer, Sonne, Surfen perfekt.
35 Jahre später ist einer der beiden Männer Hauptkommissar und der andere immer noch nicht erwachsen geworden. Diesen Mikesch spielt Andreas Lust. Treue "Tatort"-Fans werden sich erinnern: Der Österreicher hatte kurz zuvor die Episodenhauptrolle in dem Schwarzwald-Krimi "Für immer und dich" verkörpert. Die beiden Figuren ähneln sich sogar; in dem SWR-"Tatort" war Lust ein ebenfalls am Leben gescheiterter älterer Mann, den eine etwas seltsame Beziehung mit einem Teenager verband. Es birgt allerdings immer gewisse Risiken, einen Antihelden ins Zentrum einer Geschichte zu stellen. Auch solche Figuren müssen sympathische Seiten haben; bloß ein armes Schwein zu sein reicht in der Regel nicht.
"Für immer und dich" hat dieses Manko ausgeglichen, weil der Film die Tragödie eines im Grunde lächerlichen, aber auch bemitleidenswerten Mannes erzählte. Beim Münchener "Tatort" funktioniert das nicht ganz so gut, selbst wenn die persönliche Beteiligung von Leitmayr natürlich ein interessantes Element darstellt: Er hat die anderen einst ohne Abschied verlassen und seither nicht wieder gesehen.
Vor allem das Treffen mit Künstlerin Frida (Ellen ten Damme), in die beide Männer verliebt waren, ist ein ganz besonderes, zumal sie damals, wie Leitmayr jetzt erfährt, schwanger war; ihr Sohn könnte sein Sohn sein. Mikesch, immer noch Surfer, ist eine verkrachte Existenz und hält sich über Wasser, indem er Ausschussware eines Schmerzmittels an Junkies verkauft. Er träumt von einem großen Coup, mit dem er seiner Tochter ein Medizinstudium im Ausland und sich selbst einen Lebensabend in Sri Lanka finanzieren will; es nimmt erfahrungsgemäß selten ein gutes Ende, wenn kleine Ganoven große Träume haben. Dazu passt das berührende Schlussbild einer nächtlichen Straßenbahn, die mit ihrem einzigen Fahrgast ihr Ziel ansteuert; Endstation Sehnsucht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
"Die ewige Welle" ist ohnehin nicht zuletzt wegen der von Kleinert immer wieder schön miteinander verknüpften und teilweise sehr aufwändig wirkenden Bilder sehenswert. Feindt hat nicht nur die Rückblenden dieses Sommerfilms in ein reizvolles Urlaubslicht getaucht; schon allein die Aufnahmen der Surfer im Eisbach mitten in München sind spektakulär. Die Kamera ist agil bis an den Rand der Unruhe, ohne jedoch in Hektik zu verfallen. Das würde auch nicht zu den Protagonisten passen: Als Leitmayr seinen alten Freund verfolgt, muss er ganz schön pumpen, dabei hat Mikesch eine Stichwunde im Bauch; dass der Mann die immer wieder aufbrechende Verletzung scheinbar ungerührt wegsteckt, ist nah an der Unglaubwürdigkeit.
Gespielt ist das alles jedoch ausgezeichnet. Gerade Lust, regelmäßig Gast im deutschen Fernsehen, wenn auch selten als Hauptdarsteller, macht seine Sache womöglich fast zu gut. Wer keine Lust auf Verlierer hat, wird wenig Freude an diesem Film haben, zumal mit Mikeschs Freund Heinrich eine weitere tragische Figur mehr und mehr ins Zentrum rückt: Als Mikesch Drogenhändlern in die Quere kommt, muss ausgerechnet der völlig unschuldige Heinrich dafür büßen. Dank Michael Tregors unverwechselbarem Spiel wirkt dieser bedauernswerte Mann mit seiner kurzen Hose und der rosafarbenen Jacke wie ein Kind, das über Nacht um sechzig Jahre gealtert ist.
Das Drehbuch ist vom Duo Alex Buresch und Matthias Pacht, deren Sonntagskrimis nie Zeitverschwendung sind. Für den Bayerischen Rundfunk haben sie unter anderem die "Polizeiruf"-Folgen "Und vergib uns unsere Schuld" und "Fieber" (beide mit Matthias Brandt) sowie die "Tatort"-Episode "Der Wüstensohn" geschrieben.
"Die ewige Welle" ist allerdings eine Freundschaftstragödie, die nicht recht ins Krimi-Korsett passen will, weshalb eine Schießerei gegen Ende auch eher deplatziert anmutet. Die Faszination des Films resultiert daher in erster Linie aus der Konfrontation Leitmayrs mit seiner Vergangenheit, und das ist für einen Krimi etwas wenig, auch wenn das Wiederhören mit dem Pink-Floyd-Klassiker "Wish you were here" ganz viel Nostalgie freisetzt. "Into the great wide open" von Tom Petty & the Heartbreakers sowie die mal jazzige, mal rockige Musik von Daniel Michael Kaiser passen ebenfalls gut zum Lebensgefühl dieser Geschichte.