Mit Ihnen übernimmt erstmals ein Theologe, der von außen kommt, das Präsesamt der rheinischen Kirche. Wie heimisch sind Sie schon und bei welchen Themen wollen Sie Akzente setzen?
Thorsten Latzel: Ich erlebe eine große Offenheit und hatte einen ganz guten Crashkurs zu den Besonderheiten der rheinischen Kirche. Für die kommende Zeit sind mir drei Themen wichtig. Mit Corona erleben wir derzeit eine Ausnahmesituation. Als Kirche wollen wir dazu beitragen, dass sich unsere Gesellschaft nach der Pandemie zum Positiven entwickelt, etwa im Blick auf Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit. Zweitens haben wir als Christinnen und Christen Hoffnung in die Gesellschaft einzutragen - das scheint mir eine Schlüsselaufgabe unserer Zeit zu sein. Drittens wollen wir Kirche zukunftsfähig gestalten. Dazu ist es wichtig, Menschen in ihren individuellen Lebensformen zu begleiten und in ihrem Leben und Glauben zu stärken.
In Impulspapieren der rheinischen Kirche werden radikale Reformen nahegelegt bis hin zum möglichen Verzicht auf Kirchensteuer oder das Berufsbeamtentum. Ist die flächendeckende Volkskirche am Ende?
Latzel: Wir befinden uns in einem Wandlungsprozess und die theologischen Papiere eröffnen einen Diskussionsraum. Wir werden nicht mehr die Kirche der 70er und 80er Jahre in kleinerer Form sein, sondern transformieren uns in neue Formen. Es gibt viele kreative Ideen, Kirche noch stärker als Bewegung zu denken. Ich sehe uns als weltoffene Kirche, die weiterhin Menschen stärkt und Verantwortung im Gemeinwesen übernimmt, indem sie sich für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzt. Unser Auftrag bleibt, das Evangelium von Jesus Christus in die Welt zu tragen.
"Unser Auftrag bleibt derselbe: das Evangelium in die Welt zu tragen"
Was ist künftig die gesellschaftspolitische Rolle der Kirche?
Latzel: Wir wollen weiterhin einen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft und zur Förderung der Demokratiefähigkeit leisten. Dabei stehen wir in einem konstruktiv-kritischen Verhältnis zur Politik. Wo wir fundamentale Menschenrechte verletzt sehen wie beim Umgang mit Flüchtlingen an den Grenzen Europas, werden wir das thematisieren. Das Gleiche gilt für die Bewahrung der Schöpfung und Friedensfragen.
Auch wenn in diesem Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert werden, ist Judenfeindlichkeit weiterhin verbreitet, auch unter Christen. Brauchen neben Bund und Ländern auch die Kirchen Beauftragte für Antisemitismus?
Latzel: Wir sind dankbar, dass es nach der Schoah weiterhin jüdisches Leben in Deutschland gibt, und werden alles dafür tun, dass sich die jüdischen Mitmenschen hier weiter sicher fühlen. Die bleibende Erwählung des Volkes Israel gehört zum theologischen Selbstverständnis der rheinischen Kirche. Im Landeskirchenamt haben wir bereits seit Jahren eine Ansprechperson, die für den jüdisch-christlichen Dialog zuständig ist. Im Blick auf antisemitische Tendenzen sind wir wachsam und positionieren uns sehr deutlich gegen jegliche Judenfeindschaft.
Wie verändert die Corona-Pandemie die Kirche?
Latzel: Unser Auftrag ist nach wie vor derselbe: das Evangelium von Jesus Christus in die Welt zu tragen. Unsere Arbeitsweise hat sich durch die Pandemie allerdings verändert. In den Gemeinden gab es einen Kreativitätsschub und unsere diakonische und seelsorgliche Arbeit ist an vielen Stellen gefragt, nicht nur bei der Begleitung von Sterbenden. Auch theologisch können wir zu den Erfahrungen der Menschen in dieser Zeit einiges beitragen, weil wir eine 2000-jährige Erfahrung im Umgang mit Krisen- und Leidenszeiten haben - das sind Kernthemen des christlichen Glaubens. Auch junge Leute werden ja durch die Pandemie stark belastet und erleben einen schweren biografischen Verlust.
"Ich bin froh, dass es in den Landeskirchen keine nennenswerten Ansteckungsherde gab"
Wir gehen auf Ostern zu - das höchste Fest der Christenheit. Wird es wie an Weihnachten wegen Corona so gut wie keine Präsenz-Gottesdienste geben?
Latzel: Erst einmal bin ich froh, dass wir sehr verantwortlich auf die Pandemie reagiert haben und es in evangelischen Landeskirchen keine nennenswerten Ansteckungsherde gab. Wir halten uns strikt an die Vorgaben von politischer Seite - auch aus Überzeugung, weil wir Rücksicht nehmen und einander schützen wollen. Der Gottesdienst ist eine Herzkammer der evangelischen Kirche und natürlich werden wir an Ostern Gottesdienste feiern und die frohe Botschaft der Auferstehung Jesu verkünden. In welcher Form diese Gottesdienste gefeiert werden, kann derzeit noch niemand sagen. Wir bereiten uns darauf vor, dass dies in Präsenz, digital oder in einer Mischform passieren kann. Verantwortlich sind bei uns die Gemeinden vor Ort, weil sie die Lage in ihrer Region am besten beurteilen können. Ich bin sicher, dass überall verantwortliche Lösungen gefunden werden.
Viel diskutiert wird die ethische Frage, ob es Privilegien für Geimpfte geben soll ...
Latzel: Der Begriff Privilegien trifft hier nicht zu. Es geht um die Frage, unter welchen Bedingungen die Einschränkungen von grundlegenden Bürgerrechten zurückgenommen werden. Dies sollte der Fall sein, sobald es verantwortbar ist. Ich halte diese Frage aber für nachgeordnet, weil die Impfungen nicht so schnell vorankommen wie erhofft. Zudem ist offen, ob Geimpfte weiter ansteckend sind und wie lange der Schutz hält.
"Wir wollen Menschen beim Sterben begleiten, sie stärken und trösten"
Ist es vertretbar, dass teilweise von der Impfreihenfolge abgewichen wird, die als erstes den Schutz der Schwächsten und am stärksten Gefährdeten vorsieht?
Latzel: Die Politik trifft hier Entscheidungen, die nicht einfach sind. Der Schutz besonders gefährdeter Menschen ist sicherlich wichtig. Wenn Schulen und Kitas öffnen, gibt es aber auch eine Verantwortung gegenüber Erzieherinnen und Lehrern.
Wie stehen Sie zur Frage, ob assistierter Suizid in kirchlichen Einrichtungen zugelassen werden sollte?
Latzel: Wenn es um das Sterben geht, ist der assistierte Suizid ein Teilproblem und kann nur eine Ultima Ratio sein. Es ist aber gut, dass in der evangelischen Kirche eine Diskussion darüber angestoßen wurde, die wir auch gesamtgesellschaftlich führen müssen. Unsere Position als rheinische Kirche ist, dass wir Menschen beim Sterben begleiten und sie stärken und trösten wollen, aber unsere Aufgabe nicht darin sehen, in diakonischen oder kirchlichen Einrichtungen ein Angebot zur aktiven Beendigung des Lebens zu machen.
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie hat vorgeschlagen, multiprofessionelle Teams bei der Frage nach Sterbehilfe zurate zu ziehen.
Latzel: Mir gefällt die Haltung, dass wir uns beim Umgang mit diesen Grenzsituationen nicht einfach aus der Verantwortung ziehen können. Wir stehen allerdings erst am Anfang der Diskussion. Zu ihr gehört auch die Frage, welchen Beitrag multiprofessionelle Teams leisten könnten.