Der Film beginnt mit einer perfekten Idylle: Das Ehepaar Eva und Ludger Ambach (Friederike Becht, Hanno Koffler) erwartet sein Wunschkind. Für den Polizeipsychologen geht mit einem Fortbildungslehrgang in der amerikanischen FBI-Zentrale gleichzeitig ein großer beruflicher Traum in Erfüllung. Eva freut sich mit ihm und versichert tapfer, sie werde die zehn Wochen nach der Geburt auch ohne ihn schaffen. Doch dann erlebt sie kurz vor seiner Rückkehr das Schlimmste, was jungen Eltern widerfahren kann: Die kleine Sarah liegt tot in ihrem Kinderbett. Fortan handelt Eva nicht mehr rational. Als sie am selben Tag in einem Parkhaus sieht, wie eine Frau ihr Baby im Auto zurücklässt, um die Parkgebühr zu bezahlen, holt sie das weinende Kind aus dem Auto, um es zu beruhigen – und nimmt es kurzerhand mit.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dieser Auftakt ist mit seinem Wechselbad der Gefühle ein Drama von enormer Intensität. Mit der Rückkehr von Ludger kurz vor Weihnachten wandelt sich allmählich das Vorzeichen. Man spürt förmlich Evas Herz klopfen, als ihr Mann zum ersten Mal das Baby wiedersieht. Er ist zwar überrascht, wie sehr sich Sarah verändert hat, aber es sind ja auch über zwei Monate vergangen. Eigentlich wollte er gleich nach der Rückkehr mit der Elternzeit beginnen, aber seine Chefin Ariane (Katharina Behrens) bittet ihn, ihr beim Fall des verschwundenen Kindes zu helfen. Die Mutter, Stefanie Wolpert (Nadja Bobyleva), verwickelt sich in seltsame Widersprüche und redet von maskierten Männern, die ihr Baby entführt hätten; Ludger vermutet daher, dass sie den Tod des Kindes verschuldet hat und dies mit einer Räuberpistole vertuschen will. Als er seine Tochter spontan mit ins Präsidium nimmt, nutzt Ariane die Gelegenheit für eine Schocktherapie mit ungeahnten Folgen.
Abgesehen von einem Kurzfilm ist "Plötzlich so still" das erste verfilmte Drehbuch von Matthias Wehner. Die Geschichte ist von einer enormen Dichte, obwohl sie im Grunde überschaubar ist. Regisseur Lars-Gunnar Lotz stand vor der Herausforderung, die richtigen Bilder für eine Handlung zu finden, die sich größtenteils im Kopf von Eva abspielt. Das funktioniert, weil Friederike Becht perfekt vermittelt, was in der Frau vor sich geht, ohne jedoch die Emotionen vor sich her zu tragen. Sie sorgt dafür, dass sich Evas Gefühle wie auch die Tat perfekt nachvollziehen lassen: der Schock über den plötzlichen Kindstod; die zaghafte Freude, das Unglück ungeschehen machen zu können; und schließlich die Sorge, jemand könne durchschauen, dass das neue Baby nicht Sarah ist. Deshalb wird sie zur Gluckenmutter, die verhindert, dass jemand der Kleinen zu nahe kommt. Ihre Verwandlung von einer werdenden Mutter voller Liebe in einen ständig schlecht gelaunten Hausdrachen hat die bizarre Folge, dass Ludger zwar das fremde Baby als sein eigenes akzeptiert, aber dafür seine Frau nicht mehr wiedererkennt.
Weil sich das Drehbuch lange auf Eva konzentriert und erst in der zweiten Hälfte allmählich die Perspektive des von Koffler ähnlich empathisch verkörperten Ludger einnimmt, bleibt nicht mehr viel Zeit für die Mutter des entführten Kindes, deren Verhalten daher nicht immer nachvollziehbar wirkt. Trotzdem hat auch Nadja Bobyleva großen Anteil an der Qualität des Films. Lotz ist ohnehin ein Regisseur, dessen zumeist fürs ZDF entstandene Arbeiten bislang ausnahmslos sehenswert waren. Zuletzt hat er "Tage des letzten Schnees" (2020) gedreht, ebenfalls ein Krimidrama, das auf dramaturgisch reizvolle Weise zwei Geschichten verknüpfte, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Zuvor hat er drei fesselnde Folgen für die ZDF-Reihe "Stralsund" (2015/16) sowie mit "In Flammen" (2018) einen ausgezeichneten "Polizeiruf" aus Rostock über die Suche nach dem Mörder einer rechtspopulistischen Spitzenkandidatin inszeniert.
"Plötzlich so still" beeindruckt auch durch die Kameraarbeit von Eva Katharina Bühler, zumal gleich zu Beginn ein cleverer Übergang dafür sorgt, dass Lotz die nun folgende lange Rückblende nicht mit dem Hinweis "drei Monate vorher" versehen muss. Die Bilder der glücklichen Eltern sind das perfekte Glück, aber der Film verhehlt auch nicht, wie sehr die nächsten zehn Wochen an Evas Kräften zehren; und natürlich ist die Szene mit dem toten Baby zutiefst erschütternd und nichts für Menschen, deren Seelenleben gerade ohnehin eher instabil ist.