Aus der Ferne bettet sich die Stabkirche Stiege idyllisch in die Berglandschaft des Oberharzes. Auf dem Weg zu der Holzkapelle im Dreiländereck von Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen strahlt die Wintersonne kräftig durch die kahlen Äste der Buchen, Schnee knirscht mit jedem Schritt. Doch beim Näherkommen ändert sich das beschauliche Bild. Die Farbe an der Außenfassade der 1905 eingeweihten Kapelle platzt ab, jemand hat Graffiti in grellem Rot-Weiß auf die Kieferbalken gesprüht, Lochplatten verdecken die Fenster. "Dieses Objekt ist alarmgesichert", steht auf der Kirchentür aus Stahl.
Regina Bierwisch nimmt den Verfall gelassen. Sie weiß, dass die Kapelle im norwegischen Drachenstil bald in neuem Glanz erstrahlen wird. Seit Jahren engagieren sich 145 Bürgerinnen und Bürger für den Erhalt des Gebäudes, 2014 haben sie den Verein "Stabkirche Stiege" gegründet. Die Kapelle steht auf dem Gelände der 1897 eröffneten Lungenheilanstalt "Albrechtshaus", von der heute nur noch Ruinen übrig sind. Mit der Kirche aber hat der Verein Großes vor: Sie soll fachmännisch abgebaut, restauriert und sieben Kilometer weiter im Zentrum des Örtchens Stiege wieder aufgebaut werden. Eine spektakuläre Aktion - der Umzug ganzer Kirchen ist ein sehr seltenes Ereignis in Deutschland.
Legende vom norwegischen Patienten
Auf die Idee kam Helmut Hoppe, früherer Bürgermeister von Stiege, das heute ein Ortsteil von Oberharz am Brocken ist. Schnell fand der heute 84-Jährige Mitstreiter, obwohl in dieser Gegend wenige Menschen Mitglied in der Kirche sind, auch Regina Bierwisch nicht. Aber das Ganze sei sowieso keine Glaubensfrage, finden sie hier in Stiege. "Die Kirche ist ein Baudenkmal, das erhalten werden muss", sagt die pensionierte Lehrerin Bierwisch.
Genauso entspannt sehen die Menschen in Stiege die Hinweise, dass es sich bei ihrer Kirche streng genommen gar nicht um eine stilechte Stabkirche handelt, wie sie in Skandinavien im Mittelalter typisch war. "Es fehlen die aufrecht stehenden, dachtragenden Masten", sagt Vereinsmitglied Vivien Pförtner. "Es ist eher ein Blockbohlenbau, einer Stabkirche nachempfunden." Das Besondere seien aber ohnehin die geschnitzten Drachenköpfe im offenen Dachstuhl. Dieser skandinavische Stil sei einzigartig in Deutschland. Stimmt denn die Legende, nach der ein norwegischer Patient dem Lungensanatorium nach seiner Heilung das Kleinod schenkte? "Wenn Sie die Leute hier fragen, schon", sagt die 32-Jährige augenzwinkernd.
Stolze 1,1 Millionen Euro hat der Verein für den Umzug zusammenbekommen. Auf Sommerfesten und Weihnachtsmärkten haben sie gesammelt, Lesungen, Konzerte, Ausstellungen zugunsten ihrer Drachenkirche organisiert. Der Durchbruch kam im vergangenen Jahr: eine Förderungszusage des Bundes über 300.000 Euro vom Denkmalprogramm "National wertvolle Kulturdenkmäler", dazu eine Förderung in etwa gleicher Höhe vom Land Sachsen-Anhalt sowie weitere Gelder von Unternehmen und Stiftungen, darunter die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz.
Vivien Pförtner steht in der Kirche zwischen rot-weißem Absperrband, zerbrochenen Scherben und zerborstenem Holz und berichtet vom Vandalismus der vergangenen Jahre. "Sie haben das Dach abgedeckt, die Fenster zerschlagen, sich mit der Motorsäge ausgetobt, wollten die Glocke klauen. Das war blinde Zerstörungswut", sagt sie. Wer die Täter waren, wisse sie nicht. Im verfallenen Albrechtshaus werde nachts oft gefeiert. "Vielleicht haben sie sich danach dann die Kirche vorgenommen."
Rettung hat schon begonnen
Um noch mehr Unheil zu verhindern, haben die Menschen in Stiege mit der Rettung ihrer Kirche bereits vor der Zusage der großen Fördersummen begonnen. In der Kapelle hängt noch die Glocke, die Kanzel liegt auf dem Boden, die dunklen Holzdrachen blicken von oben auf die Baustelle herab. Alles andere ist bereits abtransportiert. Der Altar, die Bänke und die Kirchentür aus Holz liegen auf dem Bauhof in Stiege. Neue Bleiglasfenster wurden bei den Glaswerkstätten Schneemelcher in Quedlinburg in Auftrag gegeben. "Die besitzen die Originalentwürfe, sie haben die Fenster damals gefertigt", sagt Pförtner.
Karsten Höpting ist von dem Engagement begeistert. Der 38-Jährige ist seit fast drei Jahren evangelischer Pfarrer für Stiege, Hasselfelde und Allrode. Über die Kirchenversetzung wurde der dreifache Vater gleich bei Amtsantritt informiert. "Meine Umzugskisten waren kaum ausgepackt, da habe ich in der Kapelle schon die erste Andacht gehalten", sagt Höpting.
Beispiel für konstruktive Dekonstruktion
Am 11. März, so die Planung, werden auf der einsamen Waldlichtung vor der Stabkirche die Baufahrzeuge anrücken. Zunächst wird die Spitze mit der Glocke von einem Kran abgehoben. Die kürzeren der rund 600 Holzbohlen werden nummeriert und nach und nach abgefahren, die langen Bohlen von der Harzer Schmalspurbahn transportiert. Bis Ende August soll die schlichte Holzkapelle mit ihren 150 Sitzplätzen unweit des Bahnhofs wieder aufgebaut werden, als Ort für Trauungen und als kulturelle Begegnungsstätte.
Die Menschen in Stiege sehnen diesen Tag herbei - auch Pfarrer Höpting. Der Einsatz für die Kirche verbinde die Menschen, sagt er. In einer strukturschwachen Gegend, in der sich viele abgehängt fühlten, sei das enorm viel wert. Durch das Projekt fänden die Menschen zusammen. Sie spürten, dass sie Widerstände überwinden könnten: "Das durchbricht Resignation." Und was sagt er dazu, dass viele der engagierten Bürger keine Kirchenmitglieder sind? Höpting zuckt mit den Schultern. "Hier findet Begegnung statt. Energie wird in etwas Konstruktives umgeleitet. Dafür steht Kirche doch."