epd: Frau Wüst, was ist daran reizvoll, im Jahr 2021 Kirchenpräsidentin einer kleinen Landeskirche zu werden?
Dorothee Wüst: Wir leben in herausfordernden Zeiten, denn die Ressourcen werden knapper und die Mitgliederzahlen sinken. In dieser Situation erlebe ich aber auch eine tiefe Sehnsucht danach, dass sich etwas ändert. Genau darauf möchte ich mich einlassen. Ich habe Lust darauf, herauszufinden, wie wir gemeinsam Kirche neu denken und zukunftsfähig machen können. Gemeinsam mit anderen die Herausforderungen angehen, das finde ich reizvoll.
Kirche lebt von Nähe. Das ist in Corona-Zeiten schwierig. Engagiert sich hier Kirche genug - oder ist sie zu sehr konzentriert auf das Einhalten der Regeln?
Wüst: Im ersten Lockdown hätten wir hartnäckiger sein können. Wir hätten seelsorgerlich präsenter sein können, vor allen Dingen in Hinblick auf Alte, Kranke und Sterbende. Daraus haben wir gelernt. Das passiert uns nicht noch einmal.
An Weihnachten sind viele Menschen nicht in Gottesdienste gegangen. Konfirmationen und Taufen werden verschoben, Beerdigungen sind schwierig. Besteht die Gefahr, dass sich Menschen von der Kirche entwöhnen?
Wüst: Es gibt Prognosen in beide Richtungen. Die eine sagt, Gottesdienstbesucher merken: Es geht auch ohne. Andere Stimmen sagen: Vielleicht kommen nach der Pandemie ganz neue Leute, weil sie Kirche auf eine andere Art und Weise kennengelernt haben. Wir haben als Kirche die Corona-Phase genutzt, um andere Formate zu ersinnen. Und ich finde, es gibt sehr viel Kreativität in der Fläche, um herauszufinden, wie man für Menschen da sein kann, wenn die üblichen Formen nicht funktionieren.
Kirche erreicht immer weniger Menschen. Glauben Sie, dass ihr gesellschaftlicher Einfluss zurückgeht?
Wüst: Relevanz hat sicher auch mit Quantität zu tun, aber noch mehr mit Profil. Wir schrumpfen schon eine ganze Weile. Aber ich erlebe nicht, dass wir politische Relevanz verloren haben. Das wird auch nicht geschehen, wenn wir weiter profilierte Meinung bieten. Und die haben wir ja auch.
"Es gehört auch zum Protestantismus, dass diese Position im achtungsvollen Diskurs ausgehandelt wird."
Jüngstes Beispiel ist der assistierte Suizid. Da erleben wir gerade eine kontroverse Debatte, in der wir natürlich als Kirche Position beziehen. Aber es gehört auch zum Protestantismus, dass diese Position im achtungsvollen Diskurs ausgehandelt wird. Eine Politikerin hat zu mir einmal gesagt, sie erwarte von der Kirche, dass wir einen Raum bieten, in dem solche Diskurse geführt werden können, denn Politik wird immer auf Orientierungswissen angewiesen sein. Auch dafür wird man Kirche in Zukunft brauchen.
Aber kann die Kirche, wenn ihr immer weniger Menschen angehören, für sich noch in Anspruch nehmen, moralische Instanz für die ganze Gesellschaft zu sein, die ja immer weniger homogen ist?
Wüst: Wenn sich Kirchenvertreter äußern, wird von ihnen eine klare Position erwartet. Selbst dann, wenn das Thema innerkirchlich umstritten ist. Ein Beispiel ist das Flüchtlingsschiff, das die evangelische Kirche mitträgt. Ich habe das kürzlich in einer Rundfunk-Andacht begrüßt und richtig Gegenwind bekommen - auch von Mitgliedern unserer Kirche. Aber der Streit um die Wahrheit gehört ja tatsächlich zu unserem protestantischen Wesen. Und gerade deshalb ist niemand damit gedient, gar nichts zu sagen oder es allen recht machen zu wollen. Auch als Kirchenpräsidentin erwarte ich nicht, dass jeder meine Meinung teilt, aber ich hoffe auf respektvollen Austausch.
Wenn sich Kirche äußert, tut sie das häufig mit Begriffen wie Sünde, die die Menschen gar nicht mehr so verstehen, wie Kirche sie meint. Muss Kirche die Sprache ändern?
Wüst: Das, was wir zu sagen haben, soll auch verstanden werden. Deshalb kann es uns nicht egal sein, ob unsere Sprache für Menschen verständlich ist oder nicht. In diesem Sinne müssen wir immer wieder prüfen, ob Begriffe und Formulierungen, die für uns selbstverständlich sind, das auch noch für andere sind. Und wo das nicht mehr der Fall ist, muss sich Sprache auch ändern, ohne dass die Botschaft an Substanz verliert. Man muss auch nicht jeden schwierigen Begriff in die Tonne treten, aber Wege finden, die für uns zentralen Wörter so zu erklären, dass Menschen wissen, wovon wir reden.
Muss Kirche nicht grundsätzlich ihre Art der Kommunikation ändern?
"Die digitalen Formate zeigen, dass nicht die Quantität der Wörter, sondern die Qualität des Gedankens zählt."
Wüst: Da besteht ganz sicher Handlungsbedarf. Seit 25 Jahren schreibe ich Verkündigungsbeiträge für den SWR, maximal zwei Minuten lang. Das ist eine wertvolle Übung für die Kanzel. Und gerade die digitalen Formate, die wir nach und nach erschließen, zeigen, dass nicht die Quantität der Wörter, sondern die Qualität des Gedankens zählt. Grundsätzlich aber ist wichtig, dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist, nur aus Reden besteht, sondern auch aus Hören. Zum Beispiel auf die Menschen, die sich nicht angesprochen fühlen. Wenn das besser gelingt, ist es ja vielleicht auch Ermutigung, aus vertrauten Mustern auszubrechen.
Aus ihrem Selbstverständnis heraus ist Kirche für alle Themen zuständig, hat immer und überall etwas zu sagen: Zur Bewahrung der Schöpfung, zum Frieden, zur Gerechtigkeit. Ist das ein Problem?
Wüst: Ich bin der festen Überzeugung, das Evangelium mutet uns die Aufgabe zu, die Lebenswirklichkeiten von Menschen jeden Milieus, jeden Alters und jeden Geschlechts wahrzunehmen: Von diesem Anspruch mache ich auch keine Abstriche. Wenn wir etwas sagen, soll es aber substanziell sein und kein Geplapper.
Die Kirche bleibt nach Ihrem Verständnis also Volkskirche?
Wüst: Die Diskussion darüber wird uns erhalten bleiben, weil es darauf ankommt, wie ich das Wort definiere. Wenn ich Volkskirche als Mehrheitskirche verstehe, dann ist das vorbei. Aber vom Anspruch her sind und bleiben wir eine Kirche für alle Menschen und in diesem Sinne Volkskirche.
"Ich bin überzeugt, dass es unter Nichtmitgliedern Menschen gibt, die dennoch ein Interesse an Kirche und Glauben haben."
Außerdem orientieren wir uns zu sehr an Zahlen. Ich bin überzeugt, dass es unter Nichtmitgliedern Menschen gibt, die dennoch ein Interesse an Kirche und Glauben haben. Umgekehrt gibt es unter knapp 500.000 Menschen, die noch zu uns gehören, auch welche, die sehr zufrieden damit sind, Mitglied zu sein, ohne sich aktiv einbringen zu wollen.
Die rheinische Kirche hat jüngst ein Thesenpapier diskutiert, das empfiehlt, kirchliche Strukturen zu zerstören und selbstbestimmt neue aufzubauen. Wie sehr hängen Sie an den Strukturen von Kirche?
Wüst: Strukturen sind nie in Stein gemeißelt. Aber Zerstören und neu Aufbauen hört sich auf dem Papier besser an, als es in der Realität funktioniert. Ich denke, wir müssen uns reformieren, das ist seit 500 Jahren immer wieder unsere Aufgabe. Und in den vergangenen 500 Jahren hat Kirche schon sehr oft ihre Form verändert.