Man sieht es den Filmen nicht unbedingt an, zumal Gotland mit knapp 3000 Quadratkilometern nicht gerade ein Eiland ist, aber der "Der Kommissar und das Meer" ist eine Inselreihe. Darin lag zum Auftakt vor 14 Jahren ein besonderer Reiz: Die Titelfigur, der deutschstämmige Polizist Robert Anders (Walter Sittler), hatte seit einer traumatischen Erfahrung als Kind eine ziemlich zwiespältige Beziehung zu Wasser. Diese Phobie hat ebenso wie seine deutschen Wurzeln irgendwann keine Rolle mehr gespielt, doch der insulare Charakter der Fälle ist der Reihe natürlich erhalten geblieben: Die Einwohnerzahl Gotlands entspricht der einer deutschen Kleinstadt. Es kennt zwar nicht jeder jeden, aber überschaubar sind die Konflikte dennoch. Diese Rahmenbedingungen haben das Duo Harald Göckeritz (Buch) und Miguel Alexandre (Regie und Kamera), die seit 25 Jahren regelmäßig zusammenarbeiten (unter anderem beim Udo-Jürgens-Zweiteiler "Der Mann mit dem Fagott", 2011), in der 27. Episode auf die Spitze getrieben: Der Film spielt fast ausschließlich auf der Fähre, die Gotland mit dem Festland verbindet. Die Geschichte lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen: Anders’ Ziehsohn Kasper (Grim Lohman) hat zufällig einen Mord beobachtet. Als der 14jährige Junge spurlos verschwindet, wandelt sich die Fährfahrt zu einem Wettlauf gegen die Zeit: In drei Stunden legt das Schiff an. Bis dahin muss der Kommissar den Mörder (oder die Mörderin) finden, denn nur der Täter weiß, was aus Kasper geworden ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Einheit von Zeit und Raum erinnert an den Handlungsrahmen eines typischen Agatha-Christie-Romans. "Auf dunkler See" lässt sich zwar nur bedingt mit "Mord im Orient-Express" vergleichen, weil die Fähre über 600 Passagiere transportiert, aber letztlich ist die Zahl der Verdächtigen ähnlich überschaubar: Das Opfer gehörte zu einer Hochzeitsgesellschaft, und da es sich offenkundig um eine Beziehungstat handelt, geht Anders davon aus, dass der Mörder ein Mitglied der vermögenden Hoteliersfamilie Öqvist sein muss. Die Figuren kommen allerdings etwas kurz, weshalb sie entsprechend klischeehaft ausfallen: Der Patriarch (sehr markant vom Norweger Bjørn Floberg verkörpert) ist ein Kotzbrocken alter Schule, der kein freundliches Wort über seine Sippe verliert. Einzig die jüngere Tochter Maria konnte seine hohen Erwartungen erfüllen, weshalb er ihr und nicht etwa der älteren die Leitung der Hotelkette übertragen hat; aber Maria ist nun tot. Die Frau fühlte sich schon länger bedroht, und tatsächlich zeigt Alexandre immer wieder einen Mann, der mit einer Pistole hantiert. Die Musik (Wolfram de Marco) vermittelt von Anfang an die Gewissheit, dass sich ein Unheil anbahnt.
Der Film (eine Wiederholung aus 2020) schaut stets nur kurz bei den Öqvists vorbei, weshalb die überraschende Auflösung nicht ganz so dramatisch wirkt, wie sie das getan hätte, wenn einem die Familienmitglieder ans Herz gewachsen wären; auch das ist ein Preis dafür, dass in der Reihe außer Sittler und Gätjen keine deutschen Schauspieler mehr mitwirken, zumal die Synchronisation nicht rundum gelungen ist. Andererseits ist Anders’ zunehmende Sorge um Kasper ohnehin wesentlich spannender als die Befragungen der Familie. Der Junge ist vor dem Mörder in eine Abstellkammer geflohen und dort eingeschlossen worden. Clever spart Alexandre aus, was Kasper sieht, sowohl beim Mord wie auch bald darauf, als sich die Tür der Kammer öffnet und er vor Schreck erstarrt. Später schockiert die aparte Kapitänin Anders mit den Bildern einer Überwachungskamera: Jemand wirft einen schweren Seesack ins Wasser. Für Sittler, der den Kommissar stets souverän, beherrscht und allein aufgrund seiner Körpergröße überlegen verkörpert, bietet die Geschichte die Gelegenheit, auch mal eine andere Seite von Anders zu zeigen: Wenn er windzerzaust über das Oberdeck eilt, zunehmend rat- und hilflos, weil Kasper überall auf dem riesigen Schiff sein könnte, überträgt sich die Verzweiflung fast unmittelbar. Als er den Seesackwerfer findet, ignoriert er all’ seine Prinzipien und greift sogar zu Foltermethoden, um die Wahrheit aus dem vermeintlichen Mörder herauszupressen.
Für Alexandre war das Kapitel "Der Kommissar und das Meer" nach sechs Filmen (2015 bis 2017) eigentlich abgeschlossen, aber die Vorstellung, einen Film fast nur auf der Fähre zu drehen, war dann doch zu verlockend. Der Grimme-Preisträger ("Grüße aus Kaschmir", 2004, ebenfalls mit Göckeritz) hat vor einigen Jahren damit begonnen, die Bildgestaltung buchstäblich selbst in die Hand zu nehmen, um seinen Schauspielern näher zu sein. In "Auf dunkler See" ist das teilweise wörtlich zu nehmen: Mitunter ist die Kamera gerade mal eine Handbreit von den Darstellern entfernt. Womöglich war der Regisseur auch noch nie so viel unterwegs wie diesmal: Er hat den Film über weite Strecken mit der Handkamera gedreht, weil Anders permanent in Bewegung ist. Auch das dürfte alle Beteiligten vor große Herausforderungen gestellt haben, denn gefilmt wurde während des normalen Fährbetriebs.