Hamburg (epd). Der Zeitgewinn vieler Menschen durch die Corona-Krise wird offenbar sehr unterschiedlich genutzt. Noch im März 2020 sei die Entschleunigung von vielen als ungewohnt genossen worden, sagte der Soziologe und Zeitforscher Hartmut Rosa (Uni Jena) am Mittwoch bei der Online-Debatte "Rasender Stillstand?" der "Zeit"-Stiftung. Derzeit werde der Lockdown eher als "Zwangsentschleunigung" empfunden.
Viele Sehnsuchtsideen über die eigene freie Zeit seien auch geplatzt. Wer sich während der Corona-Pandemie vorgenommen habe, die Romane von Thomas Mann zu lesen, den Gemüsegarten zu pflegen oder Wagner-Opern zu hören, sei möglicherweise jetzt enttäuscht. Mancher habe erkennen müssen: "Eigentlich finde ich Brotbacken öde", so Rosa.
Es gebe hier Parallelen zum Rentenbeginn, sagte Jürgen Rinderspacher, Zeitforscher an der Uni Münster. Wer schon während seines Berufslebens ein Ehrenamt oder Hobby hatte, komme gut durch. "Andere fallen in ein Loch." Laut einer Studie der TU Berlin würden viele Menschen die Corona-Krise nutzen, um länger zu schlafen, so Rinderspacher. Sie würden viele Dinge langsamer und mit mehr Muße erledigen als früher. Angesichts der Debatte um die "unausgeschlafene Gesellschaft" sei dies sehr erfreulich. Betroffen seien vor allem Beschäftigte, die derzeit in Kurzarbeit sind. Rund zehn Prozent müssten derzeit allerdings mehr arbeiten als vor der Krise.
Das psychische Wohlbefinden der Menschen in Deutschland habe sich aktuell verschlechtert, sagte die Berliner Psychologie-Professorin Jule Specht. Im Frühjahr sei es noch vergleichsweise stabil gewesen und mit dem neuen Lockdown extrem eingebrochen. Die Einsamkeit der Menschen könne durch digitale Medien offenbar nicht aufgefangen werden. Vor allem junge Erwachsene seien betroffen. Soziale Kontakte und die Lebensqualität seien eingeschränkt. Ein Jahr Corona-Pandemie habe offenbar nicht ausgereicht, um Strategien für das psychische Wohlbefinden zu entwickeln.