Frankfurt a.M. (epd). Bei den Schuldnerberatungsstellen in Deutschland müssen Ratsuchende angesichts der Corona-Pandemie mit langen Wartezeiten rechnen. Das ergab eine bundesweite Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) unter großen Städten. Im Ruhrgebiet warteten Menschen mit großen Geldsorgen teilweise mehrere Monate auf einen Beratungstermin, teilte die Verbraucherzentrale NRW mit. "In Hamburg ist die Wartezeit auf einen Termin von 81 Tagen auf 145 Tage gestiegen", sagte der Sprecher der Verbraucherzentrale, Martin Oetzmann.
Unter den Ratsuchenden ist nach Auskunft der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung auch eine ganz neue Klientel: "Viele Verbraucherinnen und Verbraucher, die bislang keine finanziellen Probleme hatten, geraten nun infolge der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie plötzlich in finanzielle Schieflage, weil sie seit Monaten in Kurzarbeit sind oder arbeitslos werden", sagte Marco Rauter vom Vorstand der LAG. Auffallend ist nach Angaben der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und des Evangelischen Hilfswerks in München die überdurchschnittlich hohe Zahl an Soloselbstständigen.
Laut Caritas NRW sind Arbeitslosigkeit, Krankheit und Trennung weiterhin die Hauptverursacher der Überschuldung. "Corona wirkt hier wie ein Brandbeschleuniger", sagte Caritas-Sprecher Markus Lahrmann. "Probleme, die vorher da waren, verschärfen sich." Neben der Corona-Krise führe auch die verkürzte Laufzeit der Insolvenzverfahren zu mehr Nachfragen, erklärte die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL). Auch die Stadt Hannover rechnet aufgrund der Reform des Insolvenzrechts im Dezember 2020 mit einem erhöhten Beratungsbedarf.
Einen Anstieg des "Nachfragedrucks" in den Schuldnerberatungsstellen beobachtet der Caritasverband Frankfurt am Main. Zwar sei die Zahl der neuen Klienten im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr um knapp 120 auf 727 zurückgegangen, sagte die Leiterin der Einrichtung, Martina Boll-Arufe, dem epd. Diese Zahlen seien aber nicht vergleichbar. Denn seit März vergangenen Jahres berieten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen nur noch per Telefon und E-Mail.
Das Evangelische Hilfswerk in München beobachtet seit Beginn der Corona-Krise eine steigende Anzahl von Anfragen für telefonische Auskünfte und persönliche Beratungsgespräche. Die Schuldner- und Insolvenzberatung zählte 1.080 Ratsuchende im Jahr 2019 und 1.412 Anfragen im Jahr 2020 - eine Erhöhung um 30 Prozent. Die Wartezeit sei mit mehr als zehn Wochen länger als die früher üblichen acht Wochen, erklärte das Werk.
Die Sozialberatung für Schuldner beim Caritasverband Karlsruhe hat nach eigenen Angaben Wartezeiten von zwei bis drei Monaten. Bei der größten Schuldnerberatungsstelle im Südwesten, der ökumenischen Zentralen Schuldnerberatungsstelle ZBS in Stuttgart, wächst die Nachfrage ebenfalls, wie es hieß.
Auch im Norden der Republik verzeichnen Schuldnerberatungen durch die Corona-Krise eine steigende Nachfrage. Die Verbraucherzentrale Hamburg registrierte 2020 mit 1.739 telefonischen Beratungen fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor (928). Zu Kurzarbeitern, Arbeitslosen, Studierenden und Selbstständigen sei der klassische Mittelstand als neue Klientel hinzugekommen, sagte Sprecher Oetzmann: "Das sind die Normal- bis Gutverdiener, die jetzt durch Kurzarbeit massive Einkommenseinbrüche haben und ihre laufenden Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen können." Die Beratungsstelle des Deutschen Roten Kreuzes in Kiel meldete ebenfalls eine steigende Nachfrage seit Herbst 2019.
Bei den Schuldner- und Insolvenzberatungen der Caritas und der AWO in Dresden habe es im Januar deutlich mehr Anrufe gegeben. "Das Telefon klingelt jetzt ständig", sagte der Leiter der AWO-Schuldnerberatung in Dresden, Jens Heinrich. In Brandenburg betreffe die seit Jahresbeginn erhöhte Nachfrage nach Schuldnerberatung alle Themenbereiche und reiche von Unterhalts- bis hin zu Insolvenzfragen, teilte die Liga der Wohlfahrtsverbände in Potsdam mit.
In Deutschland gibt es laut Statistischem Bundesamt rund 1.450 Schuldnerberatungsstellen. Im Jahr 2019 nahmen mehr als 580.000 Personen aufgrund von finanziellen Problemen ihre Hilfe in Anspruch.
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