Hildesheim (epd). Mit Blick auf die Bund-Länder-Beratungen am Mittwoch zum weiteren Vorgehen bei den Corona-Maßnahmen sieht der Hildesheimer Soziologe Michael Corsten die Politik in einer Zwickmühle. "Einerseits wächst der gesellschaftliche Druck auf die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten, jetzt eine klare Lockerungsperspektive aufzuzeigen, andererseits scheint die Informationsgrundlage für einen verlässlichen Fahrplan derzeit noch zu fragil", sagte der Professor dem Evangelischen Pressedienst (epd).
So sei noch unklar, in welchem Maß die bislang schleppend voranschreitende Impfkampagne beschleunigt werden könne. Auch das genaue Risiko, das von den als gefährlich eingestuften Mutationen des Coronavirus ausgehe, sei noch nicht absehbar. "Jetzt schon einen Weg aus dem Lockdown aufzuzeigen zu wollen, würde angesichts dieser offenen und für den weiteren Pandemieverlauf entscheidenden Fragen schlimmstenfalls bedeuten, den Menschen falsche Versprechungen zu machen", warnte Corsten, der seit mehr als einem Jahr zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie forscht.
Zwar seien Stufenpläne, wie sie in der vergangenen Woche erstmals durch das Land Niedersachsen vorgeschlagen worden waren, grundsätzlich ein sinnvolles Instrument, um der Bevölkerung Orientierung zu geben. Zugleich müssten diese aber auf einer "robusten Entscheidungsgrundlage" fußen, andernfalls drohe ein Vertrauensverlust in die politisch Verantwortlichen. "Deshalb würde ich den Entscheidern dazu raten, dem Erwartungsdruck so lange standzuhalten, bis alle Fragezeichen ausgeräumt sind." Bei einer vorzeitigen Lockerung coronabedingter Einschränkungen drohe nicht nur ein erneutes Emporschnellen der Fallzahlen, sondern auch wachsender Unwille, weitere Einschränkungen hinzunehmen und mitzutragen.
Kritikern des Corona-Managements riet Corsten dazu, sich in die Perspektive der Entscheidungsträger zu versetzen. Im zweiten Jahr der Pandemie sei die politische Verantwortung für das Bundeskabinett und die Länderchefs nicht kleiner, sondern größer geworden. "Von Routine kann keine Rede sein. Viel mehr scheinen die Unsicherheitsfaktoren im Verlauf der Pandemie stärker zugenommen zu haben als belastbaren Erkenntnisse, die für eine langfristige Perspektive notwendig sind."
Zugleich mahnte Corsten, dass Politik fortdauernde Grundrechtseinschränkungen gerade in Hinblick auf sozial und wirtschaftlich betroffene Bevölkerungsgruppen gut begründen und ihrerseits besser dokumentieren müsse, "dass sie ihre Hausaufgaben macht". So erwarte die Gesellschaft im Gegenzug zu Disziplin und Verzicht von der Politik etwa mehr Tempo bei der Impfkampagne. "Den Menschen ist klar, dass ein Ende der Ausnahmesituation ohne hinreichenden Impfschutz in der Bevölkerung nicht möglich ist. Ihre Geduld und ihr Vertrauen in das Krisenmanagement wird deshalb auch vom Tempo der Impfungen abhängen", betonte der Soziologe.