Oldenburg (epd). Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, sieht die Freiheitsbeschränkungen in der Corona-Krise zum Teil kritisch. "Ich hätte mir als Staatsrechtler nie vorstellen können, dass derart intensive Freiheitsbeschränkungen von der zweiten Gewalt, der Exekutive, beschlossen werden", sagte Papier der in Oldenburg erscheinenden "Nordwest-Zeitung" (Samstag). "Und ich wundere mich, wie wenig in der politischen Auseinandersetzung der rechtsstaatliche Grundsatz gewürdigt wird, dass der Zweck - auch der gute des Gesundheitsschutzes - nicht jeden Grundrechtseingriff rechtfertigt."
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verlange eine genaue Beurteilung der Eignung, Notwendigkeit und Angemessenheit im Hinblick auf den erreichbaren Nutzen jeder Maßnahme, sagte Papier. Bei manchen Freiheitseinschränkungen, etwa einem pauschal festgelegten Bewegungsradius von 15 Kilometern, habe er "erhebliche Zweifel, ob sie notwendig und geeignet sind, um das Infektionsgeschehen einzudämmen".
Papier fügte hinzu, ihn störe, "dass so manche Verantwortlichen in der Politik offensichtlich meinen, man dürfe in Zeiten der Pandemie so ziemlich alles an Einschränkungen vornehmen". Die Entscheidungsträger orientierten sich auch vornehmlich an den Ratschlägen von Naturwissenschaftlern und hörten zu wenig auf Verfassungsjuristen und Sachverständige, die etwas sagen könnten zu den gesellschaftlichen Nebenwirkungen der Corona-Bekämpfung.
"Die Politik ist auch dem Freiheitsschutz der Bürger verpflichtet", betonte Papier. "Die Menschen in diesem Land sind keine Untertanen. Man muss auch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebensgrundlagen der Menschen im Auge behalten. Diese Abwägungen kann man nicht einseitig orientieren am Rat der Virologen." Papier (77) war von April 2002 bis März 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.