Wie haben Sie beide im Februar vergangenen Jahres auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes reagiert, das das gesetzliche Verbot der organisierten Sterbehilfe zu Fall brachte?
Anne Schneider: Für mich war das im November 2015 verabschiedete "Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung" kein gutes Gesetz. Es widersprach sowohl politisch wie auch theologisch meinen Vorstellungen und Wünschen von einem angemessenen Rechtsrahmen für selbstbestimmtes Sterben. Und es hat sich in den folgenden Jahren auch gezeigt, dass es keinen Rechtsfrieden für Ärztinnen und Ärzte und Sterbende mit ihren Angehörigen im Blick auf die Möglichkeit eines ärztlich assistierten Suizids brachte. Deshalb habe ich das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes begrüßt, auch wenn ich es in seiner Radikalität nicht erwartet hatte.
Nikolaus Schneider: Auch mich hat das Urteil in seiner Radikalität überrascht. Ich fand es richtig, dass das Bundesverfassungsgericht sich mit dem Paragrafen 217 StGB beschäftigte. Denn es war nach meiner Überzeugung im Rahmen dieses Gesetzes möglich, dass in extremen Situationen der ärztlich assistierte Suizid straffrei blieb. Im Vertrauensverhältnis zwischen Arzt oder Ärztin und Patient hat der ärztlich assistierte Suizid in einer Notsituation für mich seinen Ort. Ich musste zur Kenntnis nehmen, dass Staatsanwaltschaften das anders sahen und Anklage erhoben. Auch wenn die Gerichte keine Verurteilungen aussprachen, musste die Verunsicherung von Ärztinnen und Ärzten beseitigt werden.
Ein 'Sterberecht' darf nicht das vom Staat zu schützende 'Lebensrecht' dominieren
Das Bundesverfassungsgericht hat den Paragrafen 217 verworfen und dabei einen für mich völlig überraschenden Ansatz gewählt: Allein die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Ausdruck der Würde des Menschen ist das leitende Motiv der Beschlussbegründung des Gerichtes geworden. Ihm kommt es darauf an, dass der Wille des oder der Einzelnen, frei und konstant geäußert, unterstützt wird. Eine Reflektion dessen, ob und wie ein freier Wille mit gleicher Dignität ein Wille zum Leben wie ein Wille zum Tod sein kann, vermisse ich im Urteil. Auch eine tiefergehende Abwägung der Lebensschutzverpflichtung des Staates im Verhältnis zum frei geäußerten Willen des einzelnen Menschen fehlt mir.
Im Ergebnis bietet die Urteilsbegründung die weitestgehende Freiheit zur Selbsttötung in westlichen Demokratien und die weitestgehende Verpflichtung des Staates zur Unterstützung dieses Willens zum Tod. Es gibt keinerlei vom Gericht genannte Konditionierungen. Diese undialektische Vorordnung des freien Willens des einzelnen Menschen als Ausdruck menschlicher Würde vor allem staatlich zu garantierendem Lebensschutz als Verpflichtung gegenüber der Würde des Menschen ist für mich ein Stein des Anstoßes.
Frau Schneider, was ist für Sie radikal an dem Urteil und ist es Ihnen zu radikal?
Anne Schneider: Das Urteil hat dem Menschen grundsätzlich das Recht auf einen selbstbestimmten Tod zugesprochen. Und die konkrete Inanspruchnahme dieses Rechts wird nicht daran gebunden, dass der Mensch sterbenskrank ist. Auch persönliche Leiderfahrungen, wirtschaftliche Gründe und Alterseinsamkeit können Begründungen für den Wunsch nach Suizidbeihilfe sein, die es zu respektieren gilt. Das ist durchaus eine Radikalität, die mich beim konsequenten Weiterdenken zwar erschreckt, die ich aber rechtlich gesehen bejahe. Und diese Radikalität ist es, die jetzt von unserer Politik dringend Auslegungs-, Umsetzungs- und Ausführungsgesetze erfordert, damit ein "Sterberecht" nicht das vom Staat zu schützende "Lebensrecht" dominiert.
Die Kirchen sind gut beraten, kritisch aber auch selbstkritisch zu sein
Herr Schneider, die evangelische und katholische Kirche haben nach dem Urteil ihre ablehnende Haltung zur Suizidassistenz betont. Muss sich an dieser Haltung etwas ändern?
Nikolaus Schneider: Die Kirchen sind gut beraten, sich mit der Begründung des Gerichtes ganz sicher kritisch, aber auch selbstkritisch auseinanderzusetzen. Dazu gehört die Frage nach der Dignität des freien Willens eines Menschen als Ausdruck seiner Würde im Verhältnis zum staatlich zu sichernden Wertegerüst einer Gesellschaft. Auch die Kirchen müssen sich fragen, ob sie eine hinreichend dialektische Abwägung zwischen dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen Menschen und der staatlichen Verpflichtung zum Lebensschutz vorgenommen haben.
Die Kirchen könnten auch ihre eigene Lehrentwicklung kritisch betrachten, denn der unbedingte Lebensschutz ist erst durch Augustin (354-430) Standard geworden. Und ein offenes Bekenntnis zum unbarmherzigen Umgang mit Suizidenten und ihren Familien durch Jahrhunderte hindurch würde den Kirchen gut zu Gesicht stehen. Eine Kirche, die in ihrer Lehrbildung einen vorläufigen Wahrheitsanspruch hat, wird nun auch zu einer kritischen Debatte finden. Bisher Gesagtes wird sich in dieser Debatte bewähren oder verändert werden.
Wie nehmen Sie derzeit die Debatte innerhalb der evangelischen Kirche wahr, die durch einen Gastbeitrag führender Protestanten in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ausgelöst wurde?
Anne Schneider: Bis vor kurzem hatte ich den Eindruck, dass auch in der evangelischen Kirche - zumindest auf der kirchenleitenden Ebene - der Mut zur Ambiguität in ethischen Fragen fehlt. Also der Mut zur Uneindeutigkeit, Vielfalt, Vagheit und Unentscheidbarkeit im Blick auf theologische Antworten zu ethischen Problemen. Aber dann haben mich Bischof Ralf Meister, Professor Rainer Anselm, Professorin Isolde Karle und Diakonie-Präsident und Pfarrer Ulrich Lilie eines Besseren belehrt. Ich begrüße die durch sie angestoßene Debatte.
Ich halte ein absolutes 'Nein' für falsch. Aber ich kann auch nicht einfach 'Ja' zu dieser Frage sagen
Nikolaus Schneider: Auch ich begrüße ausdrücklich, dass die Autoren des Beitrags eine weitergehende Debatte beginnen. Sich in einen Schmollwinkel zurückziehen oder in fundamentalistischer Abwehr zu verharren, wäre einer pluralistischen Kirche der Reformation unangemessen. Und die Teilnahme an einer weitergehenden gesellschaftlichen Debatte ist notwendig, gerade um kirchliche Anliegen zur Qualifizierung des zu erwartenden Schutzkonzeptes einzubringen.
Frau Schneider, erwarten Sie nach dem Urteil, dass die evangelische Kirche ihre Position zur Suizidassistenz überdenkt oder verändert?
Anne Schneider: Ja, das erwarte ich. Ich hoffe sehr, dass ihr das Urteil unseres höchsten Gerichtes Anlass und Motivation ist, eigene Positionen zu überdenken und eventuell auch zu verändern.
Sollte Suizidassistenz in kirchlichen und diakonischen Einrichtungen möglich sein?
Anne Schneider: Ja, durchaus, denn ich halte in Kirche und Diakonie ein absolutes theologisches "Nein" zum Suizid und zur Suizidassistenz für falsch.
Nikolaus Schneider: Ein absolutes theologisches "Nein" halte ich auch für falsch. Aber ich kann auch nicht einfach "Ja" zu dieser Frage sagen! Ich halte es für selbstverständlich, dass der Respekt vor dem freien Willen des einzelnen Menschen auch in kirchlichen und diakonischen Häusern gewahrt wird. Und es ist ja schon jetzt der Fall, dass es zu vielen Hilfestellungen beim Sterben kommt, die durchaus als assistierte Sterbehilfe verstanden werden können: "Palliative Sedierung" ist schon jetzt möglich, auch der Verzicht auf Essen und/oder Trinken und deren Abfederung. Dass eine lebensverkürzende Schmerzbehandlung unbedenklich ist, scheint mir Standard zu sein.
Es braucht Beratungsstellen, zu denen sterbewillige Menschen ohne Probleme Zugang haben
Ich kann mir vorstellen, dass in kirchlichen und diakonischen Häusern oder auch in eigenen Dienststellen eine qualifizierte Beratung zum Thema Selbsttötung angeboten wird. Darüber hinaus halte ich es für denkbar, dass unsere Einrichtungen es Bewohnerinnen und Bewohnern nicht verwehren, wenn sie in einer extremen Situation einen ärztlich assistierten Suizid begehen wollen.
Wie sollte ein Schutzkonzept für Menschen, die einen Suizidwunsch äußern, bestmöglich aussehen?
Anne Schneider: Das Schutzkonzept braucht psychosoziale und medizinische Beratungsstellen, zu denen sterbewillige Menschen ohne Probleme Zugang haben. Dabei ist von den Beratenden die Grenze zwischen Information und Werbung zu erkennen und zu wahren. Dass es gerade auch in Altersheimen Informationen über die Möglichkeiten von Sterbehilfe gibt, halte ich für wichtig. Eine Werbung für den assistierten Suizid, etwa als beste Möglichkeit eines selbstbestimmten Sterbens, sollte jedoch untersagt werden. Ebenso wie eine theologische Verteufelung des assistierten Suizids.
Nikolaus Schneider: Im Rahmen dieses Interviews ist es nicht möglich, ein Schutzkonzept in angemessener Weise zu beschreiben. Ganz kurz nur so viel: Menschen dürfen nicht zum Tode gedrängt werden oder sich aufgrund allgemeiner Erwartungen selber zum Tode drängen. Einen Zwang zum Leben darf es allerdings auch nicht geben. Menschen sollten auch ermutigt werden, ihr Leben genießen zu können, ohne etwas leisten zu müssen. Und sie dürfen auch anderen zur Last fallen.