Zuversichtsbrief Woche 48 - Macht Kunst!
Den verborgenen Sinn hinter Worten entdecken und dabei möglichst kreativ vorgehen - dazu lädt Frank Muchlinsky in seinem Zuversichtsbrief Nr. 48 ein. Er tut das anhand eines besonders prägnanten und bekannten Textes, dem Beginn des Johannesevangeliums.

Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und Gott war das Wort.
Dasselbe war im Anfang bei Gott.

Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht,
und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.

In ihm war das Leben,
und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis,
und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns,
und wir sahen seine Herrlichkeit,
eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes
vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

Johannes 1,1–5.14 (Hier vorgelesen von Helge Heynold)

Liebe Durchhaltekünstlerinnen und -künstler,

mögen Sie aufgewärmte Gerichte essen? Oder haben Sie lieber jeden Tag etwas auf dem Tisch, das frisch zubereitet wurde? Man kann hier durchaus differenzieren, denn es kommt ja unter anderem darauf an, um welches Gericht es sich handelt. Als großer Freund von Grünkohl bin ich der Überzeugung, dass es Dinge gibt, die besser schmecken, je häufiger man sie aufwärmt. Wer jedoch ein Essen mit frisch geschnippeltem knackigem Gemüse in der Pfanne bereitet hat, wird am nächsten Tag vielleicht traurig auf die etwas schlappen Reste blicken. Hier ist Kreativität gefragt, wenn man aus dem Übriggebliebenen noch etwas bereiten möchte, das nicht den Beigeschmack von Resteverwertung hat. Diese Kreativität hat schon große Kunst hervorgebracht. Wenn ich mir überlege, was für herrliche Knödel schon aus altbackenem Brot entstanden sind, läuft mir das Wasser im Munde zusammen.

Ich habe heute ebenfalls vor, Ihnen etwas zu servieren, das ich schon einmal gekocht habe. Ich habe mir natürlich überlegt, was ich mit diesen Resten einer alten Predigt anfange, damit sie wieder munden, aber die Zutaten sind durchaus dieselben geblieben. Es geht um den berühmten Johannesprolog, diese volltönenden Worte, die der Evangelist schreibt, bevor er mit der Geschichte Jesu anfängt. Oben steht ein Teil dieses Prologs. Lesen Sie ihn doch noch einmal durch!

Diese Worte stehen im Johannesevangelium an der Stelle, wo andere Evangelisten von der Geburt Jesu erzählen. Es ist sozusagen Johannes’ Beschreibung davon, dass und wie Gott Mensch wurde. Nun ist „Gott wurde Mensch“ leicht getan. Was das aber bedeutet: Das ist ausgesprochen schwer zu erfassen. Ich finde, man spürt, wie sich das Hirn mit dem Johannestext abmüht, und selbst wenn man am Anfang noch mitkommt, irgendwann schwirren die Gedanken wild durcheinander.

Ich habe darum versucht, dem Text auf die Spur zu kommen, indem ich seine Zutaten neu zusammengestellt habe. Hier sind meine verschiedenen Versuche der Annäherung an Johannes 1:

Annäherung 1: Zusammenfassung

Im Anfang war das Wort bei Gott und war Gott!
Durch das Wort ist alles erschaffen –
in ihm sind Leben und Licht.
Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns Menschen.
So sahen wir den Sohn Gottes in aller Herrlichkeit.

Das ist hübsch kompakt, aber kommt es wirklich an das heran, was Johannes mit seinem Prolog will? Starten wir eine weitere Annäherung.

Annäherung 2: Nur die Substantive, immer zu zweit zusammengesetzt.

Anfangwort
Wortgott
Gottwort
Anfanggott

Dingewort
Lebenleben
Lichtmenschen
Lichtfinsternis

Wortfleisch
Herrlichkeitherrlichkeit
Sohnvater
Gnadewahrheit

Irgendwie interessant. Klingt auch gut, hier und da. Aber weiter mit

Annäherung 3: Nur die Verben, auch Hilfsverben

War, war, war, war
sind gemacht, ist gemacht, ist gemacht.
War, war
scheint, ergriffen
ward, wohnte, sahen

Und eine letzte Annäherung habe ich auch für Sie:

Annäherung 5: Die Worte, geordnet nach ihrer Häufigkeit im Text, in absteigender Reihenfolge

Und - das - war - Wort - gemacht - dasselbe - Gott
Anfang - Finsternis - Licht - Leben
ist - im - bei - der

Wie kommt Ihnen das vor, was ich da mitgebracht habe? Spannend oder eher albern? Beliebig oder irgendwie sinnreich? Tiefsinnig oder eher flach? Ich denke, es ist all das gleichzeitig, wie eben Jesus Gott und Mensch gleichzeitig ist. Der Text von Johannes ist eben ein Versuch, das Ungeheuerliche auszudrücken, was Weihnachten geschieht. Dieser Versuch muss gleichzeitig gelingen und scheitern. Was Johannes da macht, ist Kunst! Es ist, wenn Sie so wollen, Dada.

Meine Wochenaufgabe für Sie lautet: Entdecken Sie verborgenen Sinn in alten Dingen! Seien Sie kreativ mit etwas, das Sie übrig haben. Sei es ein Essensrest oder ein Pullover, den Sie aufribbeln und neu stricken. Oder Sie nehmen einen Text und ordnen die Worte neu an. Haben Sie noch Reste von Wandfarbe im Haus? Dann kann dies eine spannende Woche werden. Entdecken Sie den Sinn, machen Sie Kunst!

In tiefer Verbundenheit

Ihr Frank Muchlinsky