Bonn, Düsseldorf (epd). Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hält weder den Inzidenzwert noch die tägliche Zahl der Neuinfektionen für sinnvolle Richtwerte bei der aktuellen Corona-Strategie. "Der Grenzwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner wird von vielen als ein wissenschaftlicher Grenzwert wahrgenommen", sagte Streeck der Düsseldorfer "Rheinischen Post" (Online Mittwoch/Print Donnerstag). "Tatsächlich aber ist er ein von der Politik definierter Grenzwert." Er vermittele inzwischen ein völlig falsches Bild, da die Teststrategie ständig verändert worden sei. Auch die Zahlen der Neuinfektionen seien dadurch nicht mehr ausschlaggebend.
Seit dem 3. November würden nur noch symptomatische Fälle getestet, die auch Kontakt zu Infizierten hatten, sagte Streeck. "Dieser Wert ist nicht vergleichbar mit dem im Sommer, wo wir die Dunkelziffer durch massives Testen viel besser ausgeleuchtet haben." Außerdem verzerrten die Antigentests, die nicht erfasst werden, das Bild. Die aktuellen Zahlen der Neuinfektionen vermittelten daher ein falsches Bild und sollten daher nicht dem Zweck politischer Entscheidungen dienen.
Der Wissenschafter warb für systematische, repräsentative Stichproben, um zu verstehen, wie das Infektionsgeschehen wirklich aussieht. Nur so könne ein konstanter Richtwert entwickelt werden. "Derzeit wissen wir wie gesagt nicht, wer sich wo und wie überhaupt ansteckt, warum es überhaupt noch Infektionen gibt, wir tappen einfach im Dunkeln."
Als ein Instrument regte Streeck an, beispielsweise bei den Infizierten den Beruf zu erfassen, um möglicherweise besonders häufig betroffene Berufsgruppen erkennen zu können. "Viele solcher Daten werden nicht erfasst." Und dies könnten nicht Virologen oder Epidemiologen koordinieren, betonte Streeck. "Das muss aus dem Bundesgesundheitsministerium kommen."
Mit Blick auf die gegenwärtig bekannten Corona-Mutationen gab der Virologe Entwarnung. Zwar habe die britische Variante eine höhere Infektiosität. "Eine infizierte Person steckt nicht mehr drei Menschen an, sondern 3,7." Dieser Anstieg sei ernst zu nehmen, habe aber nicht die Dimension von Masern, wo die Infektionswahrscheinlichkeit bei zwölf liege. Die Mutation müsse weiter untersucht werden, es gebe aber keinen Grund zur Panik, sagte der Bonner Professor für Virologie und Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Uni Bonn.