Bielefeld, Düsseldorf (epd). Nach den Vorwürfen der Freiheitsberaubung in der Diakonischen Stiftung Wittekindshof in Bad Oeynhausen ermittelt die Staatsanwaltschaft mittlerweile gegen 145 Beschuldigte. Darunter befinden sich der ehemalige Leiter eines Geschäftsbereichs, Ärzte und verantwortliche Betreuer sowie Angehörige des Pflegepersonals, wie die Staatsanwaltschaft Bielefeld und die Polizei Minden am Montag mitteilten. Ihnen werde Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Das NRW-Sozialministerium kündigte eine Aufarbeitung der Vorfälle an.
Die große Zahl der Beschuldigten komme dadurch zustande, dass die Ermittlungen ergeben hätten, "dass sie als Pflegepersonal an der Umsetzung von einzelnen freiheitsentziehenden Maßnahmen beteiligt gewesen sind, ohne diese jedoch angeordnet zu haben", erklärten Staatsanwaltschaft und Polizei.
Bislang haben die Ermittler 32 mutmaßlich Geschädigte identifiziert, wie es weiter hieß. Bei den freiheitsentziehenden Zwangsmaßnahmen handele es sich unter anderen um Gruppen- oder Zimmerverschluss sowie das Absondern in einem sogenannten "Time-Out-Raum", ohne dass ein richterlicher Beschluss vorgelegen hätte oder zur Weiterführung der Maßnahme eingeholt worden sei. Gleiches gelte für Fixierungen auf einem Stuhl oder einer Matte.
Den bisherigen Ermittlungen zufolge soll es zudem in mehr als 20 Fällen zum Einsatz von CS-Gas gegen Bewohner des einen Geschäftsbereiches gekommen sein. Hier werde jedoch noch geprüft, ob der Einsatz von Reizgas möglicherweise durch Notwehr gerechtfertigt gewesen sei, hieß es.
Der Fall war im Oktober 2019 bekanntgeworden. Durchsuchungen der polizeilichen Ermittlungskommission gab es in insgesamt 26 Objekten überwiegend in Nordrhein-Westfalen. Der Vorstandssprecher des Wittekindshofes, Dierk Starnitzke, erklärte dazu: "Wenn Maßnahmen ergriffen wurden, die nicht rechtmäßig und vielleicht sogar strafbar gewesen sind, dann gilt es, das schonungslos aufzuklären, wozu wir auch unbedingt entschlossen sind."
Das Sozialministerium erklärte, dass nach Bekanntwerden der Vorwürfe Erkundigungen bei den zuständigen Behörden und den Leistungsträgern eingeholt worden seien. Nachdem es Ende Juli 2020 Hinweise über die Ausweitung der Ermittlungen gegeben habe, seien alle Bezirksregierungen angewiesen worden, sämtliche Einrichtungen der Diakonischen Stiftung Wittekindshof zu prüfen, sagte ein Sprecher am Montag dem Evangelischer Pressedienst (epd).
Das Ministerium habe den Kreis Minden-Lübbecke im September unter anderem angewiesen, die Personalausstattung in dem betroffenen Bereich der Einrichtung zu verbessern und die Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen und anderen Gewaltmaßnahmen zu klären. Die Anordnungen seien mittlerweile umgesetzt worden. Der im Wittekindshof zuständige Bereich sei personell so aufgestockt, dass nach dem "Mehraugenprinzip" nun ein Team aus vier Personen zuständig sei. Das Ministerium habe zudem eine Projektgruppe eingerichtet, die den Vorwürfen nachgehe und eine fachliche Aufarbeitung vornehme. Das Ministerium werde "die Geschehnisse lückenlos aufklären und die erforderlichen Veränderungen veranlassen, um solche Geschehnisse zukünftig und landesweit auszuschließen".
Die 1887 gegründete Stiftung Wittekindshof mit Sitz in Bad Oeynhausen unterstützt nach eigenen Angaben jährlich rund 5.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsen mit Beeinträchtigungen. Der Bereich "Heilpädagogische Intensivbetreuung" richtet sich an Menschen mit einer geistigen Behinderung und zusätzlichen schweren psychischen Störungen oder massiv herausforderndem Verhalten.