Strukturen müssten weiter umgebaut und neue Formen von Beteiligung und Gemeinschaft entwickelt werden, sagte der Direktor der Evangelischen Akademie Frankfurt dem epd. Der 50-Jährige kandidiert bei der rheinischen Landessynode kommende Woche neben den beiden Theologen Reiner Knieling (57) und Almut van Niekerk (53) für die Nachfolge von Präses Manfred Rekowski an der Spitze der Evangelischen Kirche im Rheinland. Im Falle seiner Wahl wolle er eine Ermöglichungs- und "Start-up-Kultur" fördern.
Was motiviert Sie, Präses der Evangelischen im Rheinland zu werden?
Latzel: Die rheinische Kirche ist eine faszinierende Kirche: die zweitgrößte Landeskirche der EKD mit einer großen inneren Vielfalt. Kirche Jesu Christi in der Tradition von Barmen, fromm und politisch zugleich, mit einer starken Partizipationskultur. Gemeinsam mit anderen möchte ich als Präses diese Kirche zukunftsfähig weiterentwickeln. Ich habe Respekt vor der Aufgabe. Zugleich bringe ich persönliche Kompetenzen mit: aus intensiver Arbeit in der Gemeinde, aus dem Kirchenamt der EKD, wo ich kirchenpolitische Erfahrungen sammeln konnte, und aus der Leitung der Evangelischen Akademie in Frankfurt, in der ich überregional tätig bin
Ihr Bruder Olaf Latzel, ebenfalls Pastor, wurde im November wegen Volksverhetzung verurteilt, weil er zum Hass gegen Homosexuelle aufgestachelt habe. Wie stehen Sie zu Homosexualität?
Latzel: Ich bin ich und mein Bruder ist mein Bruder. Uns beide trennen theologisch Welten. Ich spreche nicht öffentlich über ein Mitglied meiner Familie. Aber ich halte es generell für inakzeptabel, wenn Menschen diskriminiert werden, aus welchen Gründen auch immer. Unsere Kirche steht genauso wie ich selbst klar für Wertschätzung, Vielfalt und Freiheit. Das schließt die freie sexuelle Orientierung eines Menschen ein.
"Uns beide trennen theologisch Welten"
Wo wollen Sie im Falle Ihrer Wahl Akzente setzen?
Latzel: Ich verstehe das Präsesamt als hörendes Amt, in dem man als Teamplayer agiert und die vorhandene Vielfalt wahrnimmt. Wichtig wäre mir zunächst geistliche Leitung, um die Gemeinden zu stärken und evangelische Perspektiven in die Gesellschaft zu vermitteln. Wir müssen neu von Jesus Christus reden, von der Hoffnung, die uns trägt, von Gottes Liebe zu seiner ganzen Schöpfung und jedem Menschen. Zweitens gilt es, Strukturen weiter zukunftsfähig umzubauen. Wir werden auch mit weniger Menschen und Mitteln gut Kirche sein können, aber nicht in den jetzigen Formen. Sonst brennen wir aus.
Drittens brauchen wir neue Formen von Beteiligung und Gemeinschaft. Hier gibt es in der rheinischen Kirche starke Ansätze wie die Jugendsynode oder die Erprobungsräume. Schließlich liegt mir daran, dass wir als Kirche und Diakonie konsequent an der Seite derjenigen stehen, die sich für eine offene, gerechte Gesellschaft einsetzen. Es wird starke Veränderungen geben durch Klimawandel, Migration oder Digitalisierung - Corona ist hier nur ein Beschleuniger.
Sollte sich Kirche auch politisch äußern?
Latzel: Das Evangelium ist per se keine Privatsache, sondern hat immer einen politischen Anspruch. Wir machen keine Parteipolitik, sondern stärken Demokratiefähigkeit, indem wir christliche Perspektiven einbringen. Dass Menschen nicht im Mittelmeer ertrinken und Verfolgte Asyl genießen, ist ein Menschenrecht. Gegen das Politikversagen der EU müssen wir dies öffentlich betonen. Als Kirche schaffen wir auch Begegnungsräume für Menschen verschiedenster Herkunft und Ansichten und tragen so zum Funktionieren der Zivilgesellschaft bei.
"Kirche trägt zum Funktionieren der Zivilgesellschaft bei"
Im EKD-Kirchenamt waren Sie für Mitgliedschaftsuntersuchungen zuständig - Sie kennen die Projektion Freiburger Wissenschaftler, nach der sich die Mitgliederzahl der evangelischen Kirche bis 2060 halbiert. Wie muss sich die Kirche verändern?
Latzel: Wir stehen vor Herausforderungen, die man nicht kleinreden darf. Die Freiburger Studie zeigt aber auch, dass über die Hälfte der Entwicklung durch unser Handeln beeinflusst werden kann. Wir werden absehbar einen Umbruch von Kirche erleben - und wir können ihn aktiv mitgestalten. Wichtig dafür wird sein, dass wir geistliche Kompetenz, Mitgliederorientierung und öffentliche Verantwortung zusammendenken. Eine weltoffene, gottvertrauende Kirche nahe bei den Menschen, die sich stärker vernetzt, exemplarisch handelt und innovativ offen ist. Dafür bietet die rheinische Kirche ein Netz in die Fläche hinein. Sie hat flache Hierarchien, setzt auf Partizipation und vertritt postmaterielle Werte. Lauter gute Ansatzpunkte zur Stärkung einer Start-up-Kultur.
Welche Gruppen wollen Sie denn gewinnen, um dem Mitgliederschwund zu begegnen?
Latzel: Im Bereich der Konfirmandinnen und Konfirmanden erreichen wir die Menschen weithin noch flächendeckend. Wenn junge Leute mit Anfang, Mitte 20 ihr erstes Gehalt bekommen, gibt es dann einen Abbruch. Die 20- bis 40-Jährigen sind für uns wichtig, weil bei ihnen die Austrittsneigung am höchsten ist. Sie lassen zudem bald ihre Kinder taufen - oder eben nicht. Hier geht es um die Weitergabe christlichen Glaubens. Und diese Altersgruppe zahlt auch in 20 Jahren noch Kirchensteuer. Wir müssen diese Menschen fragen, was für sie persönlich wichtig ist. Vor allem sollten wir jungen Menschen mehr Verantwortung geben und sie auch auf die Kanzeln holen. Allgemein lässt sich von Laien lernen, anders vom Glauben zu sprechen und aus Binnenmustern auszubrechen.
Wenn Sie Präses werden: Welches Bild gibt die rheinische Kirche am Ende Ihrer Amtszeit ab?
Latzel: Das hängt nicht zuerst von meiner Person ab, sondern liegt in den Händen Gottes und der ganzen Kirche. Mein Wunsch ist eine weltoffene Gemeinschaft mit einem freien Glauben, die attraktiv für junge wie ältere Menschen ist. Dafür möchte ich meine Stärken einbringen: kreativ denken, Ermöglichungskultur fördern, theologisch sprachfähig evangelische Perspektiven vermitteln.
"Es geht um die Weitergabe christlichen Glaubens"
Was ist die Rolle der Kirche in der Pandemie - und was ändert sich durch Corona?
Latzel: Wir sind in dieser Zeit als Kirche vielfältig für die Menschen da. Eine zentrale Rolle spielt die Seelsorge als Muttersprache des Glaubens. Wir setzen uns dafür ein, dass kein Mensch unbegleitet sterben muss. Wir sind an der Seite der Kranken, Sterbenden, Trauernden, gerade auch in der Diakonie. Die Gemeinden gehen neue, digitale Wege in der Kommunikation des Evangeliums. Das wird bleiben. Schmerzlich ist aktuell der Verlust zwischenmenschlicher Begegnung von Angesicht zu Angesicht.
Welche gesellschaftlichen Folgen haben Corona und die Lockdown-Maßnahmen?
Latzel: Unter den Auswirkungen leiden Menschen in unterschiedlicher Weise. Sozial Schwächere sind wirtschaftlich stärker betroffen, aber auch Kulturschaffende oder Selbstständige. Das Problem der Einsamkeit nimmt zu, ebenso häusliche Gewalt. In der Schule spielt die Frage der sozialen Herkunft eine noch größere Rolle. Die Langzeitwirkungen werden sich erst noch zeigen. Die Krise ist zugleich eine Chance, unseren Lebensstil ökologisch zu überprüfen. Als Kirche sollten wir dazu beitragen, dass es einen fairen Lastenausgleich gibt, damit wir als Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriften.
"Zu fairem Lastenausgleich beitragen"
Können Sie den Querdenkern irgendetwas abgewinnen?
Latzel: Die Möglichkeit zu demonstrieren ist ein fundamentales Grundrecht, aber mit ihrer Nähe zu Rechtsextremen und Verschwörungstheoretikern gefährden die Querdenker die Demokratie. Ich kann verstehen, dass Menschen Sorgen haben oder einzelne Maßnahmen kritisieren. Ich habe aber kein Verständnis dafür, wenn die Gesundheit anderer Menschen mutwillig gefährdet wird.
Erleben wir nicht schon, dass Teile der Gesellschaft nicht mehr miteinander reden?
Latzel: So weit wie etwa in den USA ist es bei uns nicht, aber ich sehe Tendenzen einer sozialen und kommunikativen Spaltung. Gründe dafür sind ökonomische Probleme und eine Blasenbildung in sozialen Medien. Viele Plattformen sind so programmiert, dass sie zur emotionalen Eskalation, zu inhaltlicher Verkürzung und zur digitalen Rudelbildung durch gefilterte Informationen beitragen. Hier müssen wir Räume schaffen, um Begegnung und Dialog mit Andersdenkenden zu ermöglichen.
Was heißt das für den Umgang mit der AfD?
Latzel: Die AfD hat sich von einer euroskeptischen zu einer demokratiefeindlichen Partei entwickelt, die vielfältig gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ausübt. Der Freiheitssatz "Wir sind das Volk" wird zu "Nur wir sind das Volk" verkehrt. Das zersetzt unsere Gesellschaft. Wir sollten uns weiter argumentativ mit Anhängern der Partei auseinandersetzen - darunter sind auch Menschen, die zu unserer Kirche gehören. Den Funktionären sollten wir aber keine Plattform bieten.