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"Die Corona-Krise ist auch eine Krise für die Menschenrechte"
In der Corona-Pandemie werden in vielen Ländern elementare Grundrechte mit Füßen getreten, sagt Markus N. Beeko (53), der seit 2016 Generalsekretär des deutschen Zweigs von Amnesty International ist. Zum skrupellosen Machterhalt setzten Regierungen oft auf Gewalt und Repression. Im Interview mit Elvira Treffinger beklagt der gebürtige Kölner zugleich massive soziale Folgen der Pandemie: Corona habe die Schwachen schwächer gemacht. Als gute Nachricht wertete Beeko, dass in diesem Jahr viele Menschen weltweit für Demokratie und gegen Rassismus auf die Straße gingen. Beeko hat Betriebswirtschaft studiert und ist seit 2004 für Amnesty tätig, davon einige Jahre für das internationale Sekretariat der Menschenrechtsorganisation in London.
27.12.2020
epd
Elvira Treffinger

Elvira Treffinger: Herr Beeko, zu Beginn der Corona-Pandemie wurde die Befürchtung laut, die Menschenrechte könnten in der Krise unter die Räder kommen. Wie hat sich die Situation entwickelt?

Markus Beeko: Die Corona-Krise ist auch eine Krise für die Menschenrechte. Nicht nur das Virus selbst gefährdet das Leben von Millionen Menschen. Auch die Auswirkungen der Pandemie führen zu neuen Menschenrechtsverletzungen. Am schlimmsten wurde es da, wo schon vorher die Rechte systematisch mit Füßen getreten wurden.

Also kein gutes Jahr für die Menschenrechte?

Beeko: Das Jahr 2020 war ein herausforderndes Jahr für die Menschenrechte. Die elementaren Rechte vieler Menschen wurden akut bedroht. Regierungen kamen ihrer Schutzpflicht für die Bevölkerung nicht nach oder missbrauchten die Pandemie, um skrupellos ihren Machterhalt zu sichern. Es war aber auch ein Jahr, in dem viele Menschen für ihre Rechte auf die Straße gingen, zum Beispiel für Demokratie in Hongkong oder weltweit im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung gegen Rassismus.

Wo ist die Erosion des Menschenrechtsschutzes am schlimmsten?

Beeko: Es gibt ein Muster - wir könnten wie bei der Pandemie von Vorerkrankungen sprechen: Staaten, die schon vorher nicht allen Menschen gleichermaßen Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge, Sicherheit und politischer Teilhabe gewährten, haben in der Pandemie versagt oder diese Zustände sogar bewusst in Kauf genommen. Und Staaten, die schon vorher die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit eingeschränkt haben, haben in der Pandemie die Zügel weiter angezogen. China und Hongkong sind eklatante Beispiele dafür, wie auch die Überwachung weiter ausgebaut wurde. Das gilt auch für Vietnam.

Nahm auch in Afrika die Repression zu?

Beeko: In vielen afrikanischen Ländern sind Ernährung, Sicherheit, Bildung und Gesundheitsfürsorge für einen Großteil der Bevölkerung nicht gesichert. Wo Aktivisten, Gewerkschafter oder Journalisten auf Mängel oder Misswirtschaft hingewiesen haben, wurden sie verfolgt oder Repressalien ausgesetzt. Zum Beispiel im Niger, in Kenia oder Simbabwe. Trotz der Pandemie wurden in Kenia Slums geräumt. In Angola wurden Mitglieder der Organisation Mbakita drangsaliert, bedroht und festgesetzt, weil sie sich für die San-Minderheit einsetzten. Bei der Durchsetzung von Ausgangssperren wurden Menschen in Angola, Kenia und Nigeria durch exzessive Polizeigewalt getötet.

Was sind die Gründe für die massiven Angriffe auf die Grundrechte?

Beeko: 2020 gab es in vielen afrikanischen Ländern auch Wahlen, etwa in Tansania, Burundi und der Elfenbeinküste, in Uganda stehen sie bevor. In diesem aufgeladenen Umfeld wurde die Pandemie oft zum Vorwand, um Gewalt gegen die Zivilgesellschaft einzusetzen und kritische Journalisten mundtot zu machen. Wenn Staaten schon vorher Bevölkerungsgruppen diskriminiert oder unterdrückt hatten, waren die Hemmschwellen sehr niedrig, in der Pandemie mit massiver Gewalt vorzugehen. Die Corona-Krise trifft viele Menschen in Entwicklungsländern wirtschaftlich sehr hart, weil die Staaten Ausfälle kaum oder gar nicht auffangen können. Viele Regierungen befürchten politische Instabilität. Um das zu verhindern, setzen sie auf Gewalt und Repression.

Hat die Pandemie die soziale Kluft vertieft?

Beeko: Corona hat die Schwachen schwächer gemacht. Viele ihrer Jobs und Einkommensmöglichkeiten in Entwicklungsländern fielen weg, ohne dass es einen Ausgleich gab, Hilfsprogramme wurden gestoppt, der Zugang zu Bildung wurde schwerer. Und die Schwächsten in einer Gesellschaft können sich schlechter gegen Krankheiten schützen. Entwicklungsfortschritte stehen auf der Kippe. Denn Geld, das jetzt in die Pandemie-Bekämpfung fließt, fehlt an anderer Stelle in der Gesundheitsversorgung oder in der Armutsbekämpfung.

Wie wichtig sind die Protestbewegungen, die es in vielen Teilen der Welt gibt?

Beeko: Die gute Nachricht ist, dass Menschen weltweit auf die Straße gingen oder vor die Gerichte zogen, wo Regierungen versucht haben, die Corona-Krise zu instrumentalisierten oder zu ignorieren. So haben wir in Belarus gesehen, dass sich die Menschen nicht von staatlicher Repression abschrecken ließen. In Nigeria demonstrieren junge Leute mutig gegen Polizeigewalt. Aber wichtig ist internationale Solidarität mit ihnen, auch mit Menschen wie Joshua Wong und Jimmy Lai, die in Hongkong verfolgt werden.