Mehr als drei Stunden Radio hören die Deutschen jeden Tag im Schnitt. Und bei einer der am stärksten wachsenden Mediengattungen, den Podcasts - übers Internet abrufbaren Audiodateien - spielt das Radio ebenfalls eine große Rolle. Der Hörfunk ist also gut für die Zukunft aufgestellt - und zugleich das älteste elektronische Massenmedium.
Seit Oktober 1923 wird in Deutschland nahezu ununterbrochen Radio ausgestrahlt. Doch wie alle technischen Entwicklungen erlebte es den Durchbruch nicht auf einen Schlag: Die erste öffentliche Rundfunkaussendung in Deutschland, sozusagen die "Geburtsstunde des Rundfunks", war vor 100 Jahren, am 22. Dezember 1920: ein Weihnachtskonzert, gesendet über Langwelle.
Damals wurde in Königs Wusterhausen bei Berlin ein Feldversuch unternommen, der die Erfolgsgeschichte des Mediums in Gang setzte. Zu hören waren "Stille Nacht, heilige Nacht" und weitere Weihnachtslieder, gespielt von Klarinette, Harmonium, Streichinstrumenten und Klavier. Es musizierten Reichspostbeamte wie der Geige spielende leitende Techniker Erich Schwarzkopf.
Alle saßen recht beengt neben einem 5-Kilowatt-Lichtbogensender, der Senderaum war zur Schalldämmung mit Schlafdecken aus Militärbestand ausgelegt worden. Gesungen wurde während des moderierten Live-Programms vermutlich ebenfalls, außerdem gilt als wahrscheinlich, dass Gedichte vorgetragen und Grüße verlesen wurden. Freilich existieren keine Originalaufnahmen.
Gesendet wurde über Langwelle vom "Funkerberg" aus, einem 65 Meter hohen, dank der Eisenbahn von Berlin aus gut erreichbaren Hügel bei Königs Wusterhausen. Dort war bereits ein gewaltiger "Antennenwald" entstanden, seitdem das Gelände 1916 als Zentralfunkstelle des deutschen Heeres in Betrieb genommen worden war. Noch heute ragt der letzte verbliebene, 210 Meter hohe Antennenmast vom Funkerberg auf. Nach dem Ersten Weltkrieg ging das Areal im Rahmen der Abrüstung an die Deutsche Reichspost über und wurde für Telegrafiezwecke benutzt.
"Meilenstein" - von drahtloser Telegrafie zum Radio
Der globale Ingenieurs-Berufsverband IEEE (Institut of Electrical and Electronics Engineers) erklärte das Weihnachtskonzert 1920 zum "Meilenstein" der Technikgeschichte. Mit ihm gelang der Schritt von der drahtlosen Telegrafie zum Radio. Das Problem akustischer Kopplungen beim Zusammenspiel unterschiedlicher Instrumente erwies sich als beherrschbar. Die Klangqualität war zufriedenstellend und das Interesse groß.
Eine dreistellige Zahl von Ohrenzeugen dürfte in den damals rund 70 deutschen Reichspostempfangsstellen, auf Schiffen und in ausländischen Versuchsstationen zugehört haben. Reaktionen aus den Niederlanden und England sind belegt. Überdies gab es wahrscheinlich allerhand "Schwarzhörer", die über Detektorempfänger und Draht, aber ohne behördliche Genehmigung die Sendung verfolgt haben.
In den folgenden Jahren wurde mit der Übertragung von Schallplatten-Musik und Opern, mit schnellen Börsennachrichten in einem "Wirtschaftsrundspruch" für Abonnenten sowie mit weiteren Königs Wusterhausener Weihnachtskonzerten experimentiert. Und zwar so erfolgreich, dass am 29. Oktober 1923 der regelmäßige Rundfunkdienst in Deutschland den Betrieb aufnahm.
Massenmedium, aber auch Säule der Nazi-Propaganda
Bereits nach wenigen Jahren war das Radio zum Massenmedium mit Millionen Hörern geworden - deutlich bevor das Nazi-Regime es mit preiswert verkauften "Volksempfängern" zu einer medialen Säule seiner Propaganda machte.
100 Jahre nach dem Weihnachtskonzert aus Königs Wusterhausen steht das Radio vor neuen technischen Herausforderungen: Es ist offen, ob der digitale Antennenradio-Standard DAB+ sich durchsetzen wird, obwohl Abermillionen Radiogeräte, die auf dem alten analogen Standard UKW basieren, weiterhin gerne genutzt werden. Oder ob nicht sogar das bequeme, allerdings energieintensive internetbasierte Streaming zur neuen dominanten Audio-Technologie wird.
Die Jubiläumsausstellung "On Air - 100 Jahre Radio" wurde im Oktober 2020 im Berliner Museum für Kommunikation eröffnet, ist derzeit wegen der Corona-Pandemie allerdings geschlossen. Und auf dem Funkerberg in Königs Wusterhausen zeugt - außer weithin sichtbaren Resten des "Antennenwaldes" - ein liebevoll eingerichtetes Museum von der Frühgeschichte des ältesten elektronischen Massenmediums.