Immer neue Fragen: Lübcke-Prozess zieht sich bis ins kommende Jahr
Im Lübcke-Prozess sollte der Hauptangeklagte Stephan E. wichtige Antworten geben. Stattdessen warf er neue Fragen auf, die den Prozess nun verlängern.
03.12.2020
epd
Von Stephan Köhnlein (epd)

Frankfurt a.M. (epd). Eindringlich und mit brüchiger Stimme wendet sich Irmgard Braun-Lübcke an den Hauptangeklagten Stephan E.: "Ich bitte sie ganz inständig. Wir wollen die volle Wahrheit, wir wollen wissen, was wirklich war", sagte die Witwe des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Doch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Am Ende warfen die Antworten E.s so viele neue Fragen auf, dass der Prozess nicht wie angepeilt noch in diesem Jahr beendet werden kann.

"Wir bekommen hier immer wieder situativ angepasste Einlassungen zu hören", sagte der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel an den Angeklagten gerichtet. Dabei handelte es sich am Donnerstag um Aussagen E.s unter anderem zu Schießübungen mit dem Mitangeklagten Markus H. in einem Schützenverein, die angeblich nicht dokumentiert worden seien.

Solche Aussagen seien der Anlass, grundsätzliche Fragen zu stellen und E. mit den Widersprüchen und Ungereimtheiten zu konfrontieren, sagte Sagebiel. Dazu müsse man einen neuen Fragenkatalog erstellen, so dass der Prozess nicht im Dezember zu Ende gehen werde. Die Verteidigung E.s erklärte sich grundsätzlich bereit, diesen Fragenkatalog zu beantworten.

E. hat im Verlauf der Ermittlungen und des Prozesses bereits mehrere Versionen des Tatgeschehens erzählt und drei unterschiedliche Geständnisse abgegeben. Am Donnerstag machte er unter anderem erneut seinen inzwischen entlassenen Anwalt Frank Hannig dafür verantwortlich, dass er zwischenzeitlich den Mitangeklagten Markus H. beschuldigt hatte, den tödlichen Schuss auf Lübcke abgegeben zu haben. Auch seinen anderen Ex-Anwalt Dirk Waldschmidt bezichtigte E., falsche Aussagen gemacht zu haben.

Die kürzlich erfolgte Beschlagnahme der Handakten Hannigs durch das Gericht und dessen teilweise Entbindung von der Schweigepflicht brachten nur wenig neue Erkenntnisse. Sagebiel verwies gerade mit Blick auf handschriftliche Ergänzungen darauf, dass solche Akten auch im Nachhinein frisiert werden könnten. "Wir wollen das nicht unterstellen, können es aber auch nicht ausschließen."

Der Generalbundesanwalt wirft Stephan E. vor, den CDU-Politiker am 1. Juni 2019 um 23.20 Uhr auf dessen Hausterrasse in Wolfhagen-Istha bei Kassel in den Kopf geschossen zu haben. E. hat den Schuss gestanden. Der zweite Angeklagte, Markus H., soll E. in seinem Entschluss bestärkt haben. Er schwieg bislang. Beide sollen aus rechtsradikaler, fremdenfeindlicher Gesinnung gehandelt haben. Lübcke hatte sich vor allem im Jahr 2015 für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt.

E. verlas am Donnerstag mit tränenerstickter Stimme eine Erklärung, wonach die "furchtbare Tat und das unermessliche Leid" nicht wieder gutzumachen seien, ehe er auf die schriftlich eingereichten Fragen der Familie Lübcke einging. Schließlich stellte er sich auch den Fragen des Anwalts der Familie, die in dem Prozess als Nebenkläger auftritt, sowie des Gerichts und der anderen Prozessbeteiligten.

Am Nachmittag stand der Mitangeklagte H. im Fokus. Dabei ging es um die Umstände der Eröffnung des Haftbefehls am Bundesgerichtshof (BGH). Der zuständige BGH-Richter sagte, die "Kälte und Abgebrühtheit", mit der ihm der Beschuldigte entgegengetreten sei, habe ihn beeindruckt. Insbesondere habe sich H. überrascht gezeigt, dass er nur der Beihilfe zum Mord beschuldigt worden sei und nicht auch der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.