Köln (epd). Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen, Michael Bertrams, hat die von Bund und Ländern beschlossenen Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen über Weihnachten und Silvester kritisiert. "Was auf den ersten Blick als ausgewogen erscheint, erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als eine Entscheidung, die dem Gebot der Rationalität staatlichen Handelns zuwiderläuft", schreibt er im "Kölner Stadt-Anzeiger" (Freitag). Kontaktbeschränkungen seien nach wissenschaftlichen Empfehlungen erforderlich, um Infektionszahlen zu begrenzen und Infektionsketten nachverfolgen zu können.
Deswegen stelle sich die Frage, ob es mit Blick auf die hohen Infektionszahlen vernünftig und sachgerecht sei, die Kontaktbeschränkungen über Weihnachten zu lockern. "Bei allem Verständnis für den Wunsch nach 'normalen' familiären Festtagen verneine ich diese Frage", schreibt Bertrams, der auch der Kirchenleitung der westfälischen Kirche angehört. Das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot eines rationalen, vernunftgeleiteten staatlichen Handelns hätte nahelegen müssen, die ab dem 1. Dezember vorgesehenen Kontaktbeschränkungen für den ganzen Monat fortzuschreiben.
"Dass dies nicht geschehen ist, beruht ganz offensichtlich auf einem Übermaß an Emotionalität bei der Entscheidungsfindung", erklärt der Jurist. So werde dem Wunsch nach einer Familienweihnacht Vorrang "vor einer konsequenten Abwehr wachsender Infektionszahlen und damit verbundener Gesundheitsgefahren" gegeben. "Mit emotionalen Entscheidungen verbinden sich jedoch nicht selten erhebliche Risiken", warnt Bertrams. Als Beispiele nennt er die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Ausstieg aus der Atomkraft nach dem Reaktorunfall von Fukushima.
"Im aktuellen Fall dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit nach den Weihnachtstagen mit einem erneuten Anstieg der Infektionszahlen zu rechnen sein", schreibt Bertrams weiter. Dazu trage auch bei, dass die beschlossene Regelung inhaltlich weitgehend unbestimmt sei. Wer dem "engsten Familien- oder Freundeskreis" zuzurechnen sei, liege im Auge des Betrachters. "Sie entpuppt sich vielmehr im Kern als ein diffuser Appell an das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung", kritisiert der Jurist. Darauf sei jedoch nach den bisherigen Pandemie-Erfahrungen kein Verlass.