Film "Gott"von Ferdinand von Schirach
© ARD Degeto/Moovie GmbH/Julia Terjung
In einem Gastbeitrag äußert sich der theologische Ethiker Peter Dabrock zum Thema Suizidassistenz, das das Theaterstück "Gott" von Ferdinand von Schirachs thematisiert.
Ach, "Gott", Herr von Schirach
Über vertane Chancen eines Volkserziehungstücks
Ferdinand von Schirach hat ein Theaterstück über Suizidassistenz mit dem Titel "Gott" geschrieben, das die ARD verfilmt hat und am 23. November um 20.15 Uhr zeigt. Peter Dabrock hat als theologischer Ethiker und als ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrates Einblicke in das polarisierende Thema wie kaum ein anderer. Lesen Sie seinen Gastbeitrag.

Zum Markenkern und zur Marketingstrategie des Erfolgsautors Ferdinand von Schirach gehört es, seinen Büchern und Stücken Ein-Wort-Titel zu geben. Die Titelwahl "Gott" für sein Sterbehilfe-Stück fügt sich konsequent und nachvollziehbar in Stil und Verkaufspolitik ein. Nicht nur geschickt, sondern tatsächlich – im wahrsten Sinne des Wortes – denkwürdig lässt der Ein-Wort-Titel den Lesenden im Unklaren und lädt ihn ein, beispielsweise unterschiedliche Verben zu ergänzen: (Wie) Gott sein? Gott spielen? Gott werden? Religionsgeschichtlich gilt die Entscheidung über Leben und Tod als eine göttliche Domäne. Dem Menschen, der darin eingreift, wird auch heutzutage noch oft entgegengehalten, er spiele Gott. Aber spielt er nur? Oder wird er es, weil nach dem von einigen proklamierten, von vielen faktisch gelebten "Tod Gottes" (Nietzsche) als Letztes, fu?r das traditionell Gott steht, nur der Mensch u?brigbleibt?"

Was, und damit wären wir beim Thema des Stücks, bedeutet eine solche zwischen Furcht, Hoffnung und Anmaßung liegende Erwartung für die Frage der Suizidassistenz: Kann/darf/muss der Mensch, der diese Möglichkeit hat, sie auch ergreifen? Oder kann/darf/muss er sie verhindern? Kommt also nur dem Tun oder auch dem aktiven Verhindern oder schon passiven Unterlassen, sei es von Individuen, sei es von Rollenträgern, hier: Ärztevertretern oder Bischöfen, die Wirkung des Gottspielens oder gottlos sein wollenden Gottseins zu? Stellt dieses Gottspielen eine menschliche Überforderung dar? Lädt sich der mit notorisch inkompetenter Entscheidungskompetenzerwartung konfrontierte Träger von Gottesattributen in der Suizidhilfe Schuld auf sich, egal wie er sich entscheidet?

Solche Fragen nach dem Sterben und nach der Würde im Sterben berühren den Kern der Existenz eines jeden – jedenfalls wenn man sie zulässt oder durch meist unwillkommene Ereignisse wie Unfall oder schlimme Krankheitsdiagnose ihrer gewahr wird. Neben der persönlichen Betroffenheit hat das Sterben immer zudem eine gemeinschaftliche wie gesellschaftliche Dimension. Es betrifft nicht nur unsere Beziehungen, sondern ist rechtlich geregelt und eingebunden in vielfältige institutionelle Settings.

Das Thema Suizidassistenz, insbesondere die immer wieder geforderte ärztliche Suizidbeihilfe, stehen dabei nach dem bahnbrechenden Karlsruher Urteil vom Februar 2020 im Mittelpunkt der Debatte. Bekanntlich hat es dem Gesetzgeber auferlegt, bei jeder kommenden gesetzlichen Regelung von Suizidassistenz krankheits- oder altersbedingte Schranken nicht mehr zuzulassen. Weder auf der Rechtssetzungsebene – die Parlamentarier im Bund finden erst langsam zu Positionen – noch in der Zivilgesellschaft ist das Urteil in seinen dramatischen Konsequenzen angekommen.

Es verdient daher jedes Lob, dass der gegenwärtig vielleicht erfolgreichste deutsche Schriftsteller nach seinem von vielen gefeierten Gerichtsdrama mit Zuschauerbeteiligung "Terror" nun das Thema Suizidbeihilfe in ähnlichem Format aufgreift und die ARD am Montag, dem 23. November 2020, eine Fernsehfassung dieses Theaterstücks sendet. So findet dieses existentiell und sozial immens wichtige Thema eine angemessene Bühne – und dies gilt unabhängig von Qualität und Tendenz des Stückes. Löblich ist auch, dass Autor, Theater- und Filmensembles sich der schwierigen Aufgabe gestellt haben, das im Laufe der bereits begonnenen Proben und Aufzeichnungen gesprochene Urteil noch in das Stück zu integrieren, es damit deutlich umzuschreiben und neu einzustudieren. Das muss man erst mal hinbekommen! Durch diese in Echtzeit erfolgte Aktualisierung hat die Vorlage eine neue, ich würde sagen, die entscheidende Pointe erhalten, die im Bewusstsein der Bevölkerung bisher kaum angekommen ist: Es gibt keine materialen Begrenzungen für Suizidbeihilfe durch Krankheitszustand oder Lebensphase mehr – Deutschland hat nun eine der liberalsten Rechtslagen für Suizidbeihilfe weltweit!

"Das Stück 'Gott' enttäuscht jedoch"

Vor diesem Hintergrund und der Erwartung, mit dieser Rechtslage gesellschaftlich und rechtspolitisch umgehen zu müssen, enttäuscht das Stück "Gott" jedoch: Es gibt sich den Anschein eines Volkserziehungstheaters. Ein Bildungserlebnis ist es deswegen noch lange nicht. Denn Bildung vermittelt nicht nur Differenzen – Laien lernen beim Schauen des Stücks vor allem juristisch ohne Zweifel einiges –, sondern vor allem Zweideutigkeitssensibilisierung. Darin bleibt das Stück weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Denn bei der Komposition der Figuren wie ihrer Argumente hat der Autor seine Sympathien eindeutig verteilt – und so erhält man statt eines Bildungserlebnisses in weiten Teilen eine Werbeschrift für ärztliche Suizidassistenz. Diese einseitige Intention zeigt sich erst recht im Buch, in dem beim "Bonusmaterial" ausschließlich Befürworter der ärztlichen Suizidassistenz zu Wort kommen. Das kann man selbstverständlich alles so machen – nur sollte die ARD nicht kolportieren, als ob im Stück das Pro und Contra einigermaßen fair dramaturgisch aufgearbeitet sei.

Von Schirach komponiert alles so, dass seine Sympathie für die Position des im wahrsten Sinne lebensmüden Protagonisten, der von seiner Hausärztin Natrium-Pentobarbital erhalten und sich damit suizidieren möchte, und seinen leidenschaftlichen Anwalt leicht erkennbar wird. Dagegen sind die Gegner der assistierten Suizidbeihilfe inhaltlich schwach und ihr Charakter unangenehm gezeichnet: Die Anwältin der Ablehnung von Suizidassistenz kommt häufiger ziemlich naiv daher – sie weiß als Ethikratsmitglied nicht mal, dass in den Benelux-Ländern auch Kinder und Jugendliche Euthanasie erhalten können. Solche Blöße muss sich der Anwalt der Pro-Partei nie geben.

 

Der Ärztevertreter tut sich mehr als schwer, seinen Hippokratischen Eid glaubwürdig in die Gegenwart zu übersetzen; dass zum heutigen Arztethos nicht nur die Berücksichtigung des Patientenwohls, sondern auch des Patientenwillens gehört, durfte dieser bisweilen wie eine dem 19. Jahrhundert entsprungene Ordinarien-Karikatur wirkende Standesvertreter nicht als seine Position einbringen. Entsprechend wird er, wie auch der katholische Bischof, wie ein beim Falschfahren erwischter Schüler der Inkonsistenz der zu oft autoritativ wirkenden Thesen überführt. So gelingt es den in die Enge getriebenen Repräsentanten von Göttern und Halbgöttern natürlich auch nicht, auf Institutionsversagen (bei der Kirche darf natürlich der Hinweis auf Inquisition und Hexenverfolgung nicht fehlen) fehlersensibel reagieren zu dürfen. Da bedient der ehemalige Schüler eines katholischen Internats erkennbar und zu billig Kirchen-Bashing-Erwartungen.

"Argumentativer Strohmann"

Schaut man sich schließlich das Portfolio der Argumente, das von Schirach dem Bischof in den Mund legt, an, so kann man zunächst denken: Dieser darf – gerade im anfänglichen Teil seines Auftritts – einige bedenkenswerte Dinge sagen, wie beispielsweise die Einsicht in die Verletzlichkeit und Beziehungsverbundenheit menschlichen Lebens. Der Eindruck, hier dennoch einem argumentativen Strohmann zu begegnen, stellt sich jedoch zunehmend ein, weil der Bischof nicht in der Lage ist, seine Gebotsmoral in die Sprache moderner Menschen zu übersetzen, sich unaufgeklärt auf die Bibel oder Kirchenväter beruft, der Selbstbestimmung bestenfalls eine sekundäre Bedeutung für den theologisch-ethischen Blick auf den Menschen einräumt und sich immer vom findigen Pro-Sterbehilfe-Anwalt mit Äußerungen zum Institutionenversagen der Kirche in Lebensführungsfragen aufs Glatteis führen lässt.

Von Schirach (oder der Erzähler) scheint ein Vorurteil zu pflegen, dass theologisch und kirchlich offensichtlich nur an Menschenrechten und Verfassungsrecht vorbei argumentiert werden kann. Seine eigene Kenntnis von Moraltheologie und theologischer Ethik hört im Grunde bei der katholischen Vorkonzilstheologie, also vor 60 Jahren, auf. Natürlich gibt es diese Positionen auch heute noch. Aber in der theologischen Ethik wird, auch im Ethikrat, deutlich anders argumentiert. Das will oder kann von Schirach das Publikum wohl nicht hören lassen. Immerhin – das muss man der Fernsehproduktion positiv anrechnen – ist im Film die Rolle mit Ulrich Matthes exzellent besetzt. Diesem gelingt es immer wieder allein durch seine Mimik, in die Darstellung der paternalistisch daherkommenden episkopalen Belehrungen Momente von Selbstzweifel einzuschmuggeln.

Überhaupt: Theologische Ethik scheint es für von Schirach offensichtlich nur in katholischer Variante oder in einer als theologischer Ethik kaum mehr erkennbaren liberalen Form, die durch einen der Begleittexte im Buch sogar eine Stimme erhält, zu geben. Darauf, dass Theologische Ethik im Gespräch mit dem Verfassungsrecht die Selbstbestimmung als zentralen Verfassungsgrundsatz ernstnehmen, dabei aber auch versuchen kann, auf Wege hinzuweisen, wie Alternativen würdevollen und selbstbestimmten Sterbens diesseits von ärztlicher Suizidassistenz, also mit milderen Mitteln, möglich sein kann, lässt sich von Schirach nicht wirklich ein. Die Dramaturgie seines Stückes lebt von Polarisierung.

"Gegebene Chancen völlig ungenutzt" gelassen

Bedauerlich ist schließlich, dass von Schirach zwar die spannende Idee hat, eine "Ethikratssitzung" als formalen Rahmen seiner dramaturgisch handlungsarmen Präsentation der Kontroverse zu wählen, aber die damit gegebenen Chancen völlig ungenutzt lässt. Anders als bei einer Gerichtsverhandlung, die am Ende oft zu einem eindeutigen Urteil kommen muss, zielen Ethikratssitzungen und -voten nicht einfach auf Entscheidungen. Vielmehr bewerben sie gerade bei gesellschaftlich so umstritten bleibenden Fragestellungen wie Sterbehilfe oder auch der Beurteilung des frühesten menschlichen Lebens argumentativ einen Handlungskorridor, innerhalb dessen es mit explizit gemachten Gründen unterschiedliche Entscheidungen geben kann. Ethikratsvoten wollen bei diesem Verfahren einerseits Pluralität achten, andererseits Inklusionsbedingungen für konkrete Entscheidungsbefähigung identifizieren.

Im konkreten Fall, bei dem ja durch Karlsruhe dem Gesetzgeber enge Grenzen für eine weitere rechtliche Ausgestaltung der Suizidbeihilfe vorgeschrieben worden sind, müsste es also darum gehen, nach formalen und organisationellen Wegen zu schauen, dieses Recht nicht zu blockieren, aber zugleich – da sind sich derzeit eigentlich die meisten Akteure einig – Suizid nicht als eine Normaloption des Lebensendes zu heroisieren. Es hätte dem Dramaturgen von Schirach deutlich mehr Anstrengung abverlangt, wenn er unter dem Mantel "Ethikratssitzung" nicht einfach sein aus "Terror" bekanntes Publikumsentscheidungsspiel hätte vermarkten wollen. Das ist selbstverständlich seine legitime künstlerische und ökonomische Freiheit, aber auch bedauerlicherweise eine vertane Chance. Denn bei Ethikratssitzungen und -voten kommt es darauf an, die Unterschiedlichkeit der Grautöne herauszuarbeiten und nicht einfach ‚Schwarz-Weiß‘ zu malen.

Man mag sich am Ende fragen, ob es der debattierten Frage angemessen ist, die Zuschauer zum Schluss abstimmen zu lassen? Kunst ist frei und diese Freiheit zu verteidigen ist eine von der Ethik zu rechtfertigende gesellschaftliche Aufgabe. In dieser Klammer ist aber auch festzuhalten: Das Abstimmungsspiel "Terror" hat große Wirkung gezeigt – und es ist nachvollziehbar, dass ein Autor, dadurch motiviert, ein Sequel konzipiert. Offensichtlich wollte er zudem etwas Neuartiges wagen. Das Ergebnis verfehlt nicht nur die spezifische Beratungsarbeit des Ethikrats, sondern lenkt die gesellschaftliche Debatte in einer komplexen Fragestellung in gewollt unterkomplexe Alternativen hinein.

Das kann man machen. Von Schirach hat es gemacht. Noch oder besser: gerade in der Abstimmungsszene am Ende zeigt sich eine nahezu manipulative Tendenz des Autors. Da fragt die Ethikratsvorsitzende, wie man nach allem Gehörten nun den Fall des alten Mannes ethisch beurteilen wolle, um im selben Atemzug nebenbei zu erwähnen, dass man auch den denkbaren Fall einer lebensmüden jungen Frau in Erwägung ziehen solle bei seinem Urteil – ja was denn nun? Schon gegenwärtig gibt es selbst unter Befürwortern heftigste Diskussionen, ob das einen Unterschied machen kann – aber darüber lässt von Schirach das Publikum nicht abstimmen, obwohl vermutlich viele Menschen hier anders voten würden. Eine solche weitere Abstimmung würde Ambivalenzen erzeugen und die ganze Debatte – jedenfalls in einem echten Ethikrat und auch in der Gesellschaft – auf eine neue Stufe heben. Aber das will von Schirach erkennbar nicht. Für diese Einseitigkeit geben ARD und viele Theater ihm gewollt und kalkuliert Raum. Diejenigen, die es anders sehen, müssen selbst das Nötige tun, um auf Alternativen hinzuweisen.