Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir's. Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch: Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen. Es ist ein köstlich Ding für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage. Er sitze einsam und schweige, wenn Gott es ihm auferlegt, und stecke seinen Mund in den Staub; vielleicht ist noch Hoffnung. Er biete die Backe dar dem, der ihn schlägt, und lasse sich viel Schmach antun. Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.
Klagelieder 3,20–32 (Hier gelesen von Helge Heynold)
Liebe Menschen zwischen Nebel und Licht,
der Herbst schreitet voran. Draußen wird es immer noch dunkler und kälter, und immer noch sind wir mitten in der Pandemie. All das trübt unseren Mut und unsere Laune. Ab und an gibt es gute Nachrichten, die Hoffnung machen. Ein Impfstoff wird kommen! Aber schnell wird aus dieser guten Nachricht eine weitere Enttäuschung. Es wird nicht reichen, zumindest nicht bald. Wir trauen uns kaum noch, zu hoffen oder zu planen. Unser aller Leben stochert im Nebel. Wir kennen die Richtung, wir haben auch einen Kurs, nur können wir nicht einschätzen, wie lange diese Reise dauert.
Wenn man aber kein Ende des Unglücks absehen kann, kann sich das Gefühl einschleichen, dass es niemals aufhören wird. Das kann auch wider alle Vernunft oder bessres Wissen geschehen. Es ist ein Gefühl, das sich aus enttäuschten Hoffnungen speist. Lieber nichts mehr hoffen, als wieder enttäuscht zu werden!
Der Bibeltext für diese Woche beschreibt ebenfalls eine Krisenzeit. Die Klagelieder stammen aus der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 vor Christus. Man kann sich die damalige Situation gar nicht schrecklich genug vorstellen. Zu dem Sterben und dem Leid kommt auch noch die Erkenntnis, dass Gott seinem Volk nicht beigestanden hat. Jerusalem, die „Tochter Zion“, die als absolut uneinnehmbar galt, liegt am Boden. Der Tempel, die Wohnung des Gottes Israels, ist zerstört. Gottesdienst findet nicht mehr statt. Die Babylonier haben alle Menschen deportiert, die fähig gewesen wären, das öffentliche Leben, wie man es kannte, aufrechtzuerhalten.
In dieser Zeit entstehen fünf Lieder, die in der jüdischen und in der christlichen Tradition mit dem Propheten Jeremia verknüpft sind. Die jüdische Tradition nennt das Buch nach dem Ausruf ganz zu Beginn „Echa“ (?????? „Ach!“). Doch wird auch von den „Qinot“ (???????) gesprochen, was Leichenklagelieder bedeutet. Trotzdem wird in den Liedern dieses Buches keine Leichenklage über die „Tochter Zion“ angestimmt. Der Ton der Lieder ist immer wieder eher hoffnungsvoll als klagend. Der Grund ist ein grundsätzlicher Wechsel in dem, was wir heute gern das „Narrativ“ nennen. Der Autor oder die Autorin der Klagelieder erkennt in der Katastrophe nicht etwa das Ende der Geschichte Gottes mit seinem Volk, sondern ein notwendiges Kapitel in dieser Geschichte. Gott hat Jerusalem absichtlich nicht beschützt, um seinem Volk eine Prüfung aufzuerlegen. Wer ausharrt und sich (wieder) auf Gott verlässt, dem wird auch geholfen. „Der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.“
Was halten Sie von dieser Erklärungsweise, von diesem „Narrativ“? Sie kommt mit einem Gottesbild daher, das uns nicht sehr zusagt. Sie erzählt von einem Gott, der nicht nur zulässt, dass Unglück geschieht, sondern der es absichtlich zulässt, um die Menschen zu erziehen. Ich gebe zu, dass mir diese Vorstellung nicht behagt. Gleichzeitig muss ich aber eingestehen, dass diese Erklärung einen sehr großen Vorteil hat: Sie eröffnet Zukunft, sie macht Hoffnung darauf, dass das Leid ein Ende haben kann und wird. Gott ist seinem Volk treu, seine Barmherzigkeit hört eben nicht auf. Auf diese Weise kann Geduld tatsächlich zu einem „köstlich Ding“ werden, wenn man weiß, dass es sich lohnt, selbst Schläge zu ertragen, weil sie aufhören werden.
Wer im Leben Hoffnung auf Gott setzt, kommt zwangsläufig mindestens einmal an einen Punkt, an dem die Frage auftaucht: Warum lässt Gott das zu? An dieser Stelle ist unseer „Narrativ“ gefragt. Wer nicht achselzuckend sagen will: „Weil es eben keinen Gott gibt“, muss sich auf die Suche nach einer Antwort machen. Die Antwort der Klagelieder habe ich Ihnen vorgestellt. Meine eigene Antwort lautet ähnlich: Gott hat uns mit allem ausgestattet, was wir brauchen, um mit der Welt umzugehen, wie sie ist. Neben einem regen Geist haben wir geschickte Hände. Zusätzlich zu einem Gefühl für das Richtige haben wir Gebote. Und über all das hinaus haben wir Gottes Vergebung für all die Male, in denen wir versagen. Es liegt also in unserer Verantwortung.
Meine Wochenaufgabe für Sie ist diese: Finden Sie Ihre Antwort auf die Frage, warum es sich lohnt, auf Gott zu hoffen! Die Antwort muss niemandem außer Ihnen selbst einleuchten. Ich weiß wohl, dass ich Ihnen diesmal einen echten „Brocken“ aufgebe. Ich bin mir allerdings recht sicher, dass Ihre Antwort für Sie Zukunft eröffnen wird in einer Zeit, wo uns diese Zukunft so abhandenzukommen scheint.
Ich grüße Sie von ganzem Herzen!
Ihr Frank Muchlinsky