Frankfurt a.M. (epd). Der von US-Präsident Donald Trump bis Januar angekündigte Teilabzug von US-Truppen löst in Afghanistan nach Expertenmeinung große Verunsicherung aus. Trump schwäche damit die Position der Regierung in Kabul gegenüber radikal-islamischen Aufständischen, sagte Thomas Ruttig (63), Co-Direktor des Afghanistan Analysts Network, dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Denn mit nur noch 2.500 Soldaten wird es erheblich schwieriger, den afghanischen Streitkräften beizuspringen, wenn sie unter Druck der Taliban kommen."
Trump hatte am Dienstag angekündigt, die Zahl der US-Soldaten von derzeit etwa 4.500 bis Januar auf 2.500 zu reduzieren. Das werde die Zukunftsängste derjenigen Afghanen verstärken, die einer Rückkehr der Taliban an die Macht mit Schrecken entgegensähen, sagte Ruttig, der 13 Jahre in Afghanistan gelebt hat und für die UN und die EU tätig war. Im Doha-Abkommen vom Februar hatten die USA und die Taliban einen vollständigen Truppenabzug bis Ende April 2021 vereinbart.
"Afghanistan ist dem Frieden noch nicht näher gekommen", sagte Ruttig. Zuletzt habe die Gewalt wieder zugenommen. Im Doha-Abkommen sagten die Taliban zu, keine ausländischen Truppen und keine großen Städte mehr zu attackieren. "Deshalb greifen sie jetzt außerhalb der Städte und die afghanischen Streitkräfte an. Im Gegenzug flogen die Amerikaner mehr Luftangriffe."
Der künftige US-Präsident Joe Biden werde hoffentlich darauf stärker drängen, dass auch die Taliban ihre vereinbarten Gegenleistungen erbringen, sagte Ruttig. Dazu gehöre, keiner Terrororganisation eine Basis zu bieten. Hielten die Taliban ihre Abmachungen nicht ein, könnte Biden auch länger US-Soldaten im Land lassen. Ein Truppenabzug der USA hätte auch einen Abzug der deutschen und der anderen Nato-Soldaten zur Folge.
Von Biden erhofft sich Ruttig auch, dass er sich für ein innerafghanisches Friedensabkommen starkmacht, das möglichst viele demokratische Rechte und Freiheiten bewahrt. Doch leider stagnierten die Gespräche zwischen Regierung und Taliban schon in der Startphase. Zugleich grassiere die Korruption: "Viele Afghanen wünschen sich, dass die Taliban mitregieren, weil sie sehen, das sie in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Korruption vielerorts stoppten."
Sicherheit darf laut Ruttig in Afghanistan nicht allein militärisch definiert werden: "Die Armutsrate ist schon vor Corona wieder gestiegen und steigt jetzt kräftig weiter", sagte er. "Während große Teile der afghanischen Elite ihr Jetset-Leben zwischen Kabul und Dubai genießen, müssen viele Menschen sehen, wie sie an anderthalb Mahlzeiten am Tag kommen." Zugleich werde Afghanistan noch lange auf Hilfe angewiesen sein. Die Staatsfinanzen stammten zu 75 Prozent aus dem Ausland.