Witwe von Walter Lübcke appelliert an Angeklagte
Im Prozess um den Mord an Walter Lübcke kam die Witwe im Gerichtssaal zu Wort. Sie richtete einen emotionalen Appell an die Angeklagten, der Familie wenigstens über die letzten Minuten im Leben ihres Mannes, Vaters und Großvaters Auskunft zu geben.
16.11.2020
epd
Von Wiebke Rannenberg (epd)

Frankfurt a.M. (epd). Die Witwe des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat am Montag im Gericht an die Angeklagten appelliert, ihr Schweigen zu brechen und zu schildern, was genau am Tatabend geschehen ist. "Sagen Sie uns die Wahrheit, nur das kann uns noch helfen", sagte Irmgard Braun-Lübcke unter Tränen im Zeugenstand im Oberlandesgericht Frankfurt am Main zu dem Angeklagten Stephan E. Dieser sagte mit gebrochener Stimme zur Witwe, deren Kummer tue ihm "unendlich leid". Ihre Fragen beantwortete er jedoch nicht.

Der Generalbundesanwalt wirft E. vor, den CDU-Politiker Lübcke am 1. Juni 2019 um 23.20 Uhr auf dessen Hausterrasse in Wolfhagen-Istha bei Kassel in den Kopf geschossen zu haben. Der zweite Angeklagte, Markus H., soll E. in seinem Entschluss bestärkt haben, unter anderem durch gemeinsame Schießübungen. Beide sollen aus rechtsradikaler, fremdenfeindlicher Gesinnung gehandelt haben. Lübcke hatte sich vor allem im Jahr 2015 für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt.

Braun-Lübcke, die zusammen mit ihren zwei Söhnen als Nebenklägerin an dem Prozess teilnimmt, schilderte den Schmerz, den der gewaltsame Tod ihres Mannes bis heute verursache. Es sei "ganz unfassbar und schrecklich", dass ihr Mann "durch einen ganz perfiden Mord" ums Leben gekommen sei, sagte die 67-Jährige unter Tränen. "Das Leben ist nicht mehr das Leben, das Haus ist nicht mehr das Haus", schilderte sie die Gefühle der Familie.

E. hat sein Geständnis mehrmals geändert, nach der letzten Version hat er selbst geschossen, H. soll nach Aussagen von E. bei der Tat anwesend gewesen sein, H. bestreitet das. Braun-Lübcke sagte, dass die Familie vor allem darunter leide, dass sie nicht wisse, was genau am Abend des 1. Juni geschehen sei, als ihr Mann - wohl auf seinem Lieblingsplatz - auf der Terrasse gesessen und sie selbst im Bett gelegen habe.

Sie wüssten nicht, ob ihr Mann H. "ins Gesicht geschaut hat". Ob er E. auf der Terrasse gesehen habe. Ob es ein Gespräch gegeben habe. Wieso er nicht weggegangenen sei. "Was genau ist passiert?", fragte sie mit geballter Faust, schaute E. und H. an und forderte "die Wahrheit": "Tun Sie doch wenigstens das!"

Die Fragen der Richter und Anwälte beantwortete die Witwe mit ruhiger Stimme, die immer wieder brach, vor sich einige Unterlagen. Der Gerichtssaal war ihr nicht neu, sie saß schon an sehr vielen der bisher 30 Verhandlungstage den Angeklagten in wenigen Metern Entfernung gegenüber.

Ihren Ehemann schilderte sie als lebensfrohen Mann, der viele Pläne für seine baldige Pensionierung gehabt habe, vor allem mit ihr und den Enkeln. Aus seinem "christlichen Menschenbild heraus" sei es für ihn selbstverständlich gewesen, den im Jahr 2015 ankommenden Flüchtlingen zu helfen und sie unterzubringen. Lübcke war deswegen jahrelang in Internet-Netzwerken beschimpft und bedroht worden.

Ganz schrecklich sei für die Familie, dass H. sich gar nicht äußere, sagte Braun-Lübcke. H. selbst gibt an, am Tatabend zu Hause vor seinem Computer gesessen zu haben. Laut einem Sachverständigen, der am Montag ebenfalls aussagte, können auf H.s Computer aber nur bis 22.03 Uhr Aktivitäten nachgewiesen werden. Zu H. sagte Braun-Lübcke zudem: "Aus Worten werden Taten." Durch seine Gespräche und andere Kontakte mit E. sei er "mitverantwortlich" für die Tat.

Dem Angeklagten E. warf die pensionierte Lehrerin vor, zwar angekündigt zu haben, alle Fragen zum Tathergang beantworten zu wollen, dies aber nicht zu tun, auch nicht an diesem Tag. Stephan E. wandte sich direkt an die Witwe: "Es tut mir leid, es tut mir leid, dass in Ihrem Herzen Kummer ist Tag für Tag, es tut mir unendlich leid", sagte er mit tränenerstickter Stimme.