epd: Seit zwei Jahren bündeln die evangelischen Landeskirchen die Aufarbeitung von Missbrauch in ihren Reihen verstärkt auf Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie haben kürzlich von der Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs den Sprecherposten des EKD-Beauftragtenrats zum Schutz vor sexualisierter Gewalt übernommen. Ein schwieriges Amt?
Christoph Meyns: Ich bin bereits von Beginn an Mitglied des fünfköpfigen Beauftragtenrates, insofern kenne ich die Aufgabe. Ich weiß also, dass es kein leichtes Amt ist. Was mich, was uns umtreibt, ist zuallererst das Leid der Betroffenen und unsere Verantwortung als Institution. Das bedingt das Mitfühlen mit den aufwühlenden Geschichten der Betroffenen - und führt zu Fassungslosigkeit über die sexualisierte Gewalt in unserer Kirche. Es ist keineswegs so, dass man unempfindlicher wird, wenn man sich länger mit der Aufarbeitung und Prävention beschäftigt. Die Emotionen bleiben. Sie sind ein starker Antrieb, dafür zu sorgen, dass sich insbesondere die Leitungsebenen der Kirche intensiv mit dem Themenfeld auseinandersetzen.
Was sind die Ziele des Aufarbeitungsprozesses?
Meyns: Neben Konzepten zur Prävention von sexualisierter Gewalt geht es vor allem darum, dass die Betroffenen gehört werden, dass sie Raum zur Aufarbeitung ihrer Erfahrungen bekommen, und dass wir uns als Kirche mit ihrem Leid konfrontieren. Zudem wollen wir verstehen, wie es zu diesen Übergriffen gekommen ist. Gibt es in der Institution Kirche Faktoren, die sexualisierte Gewalt begünstigen und deren Aufarbeitung erschweren? Etwa im Handeln der Kirchenleitung oder in den engen Sozialstrukturen, die ja kennzeichnend für kirchliches Leben sind? Haben wir strukturelle Defizite, die den Tätern den Missbrauch leicht machen? Das wissen wir alles noch nicht genau. Deshalb haben wir eine umfassende Aufarbeitungsstudie ins Leben gerufen, die unter anderem diese Fragen beleuchten soll.
Bislang wurden durch die zuständige Kommission 881 Fälle sexualisierter Gewalt in der EKD und der Diakonie bekannt. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer?
"Sicher ist, dass wir nur um einen Teil der Fälle wissen."
Meyns: Auch das ist schwer zu sagen. Untersuchungen über sexualisierte Gewalt im familiären Umfeld haben beispielsweise ergeben, dass der weit überwiegende Teil der Fälle nicht zur Anzeige gebracht wird. Andere Studien gehen bei Missbrauchsdelikten davon aus, dass die Dunkelziffer etwa Faktor zehn der bekannten Fälle beträgt. Ohne genaue Zahlen zu kennen: Sicher ist, dass wir nur um einen Teil der Fälle wissen.
Wie schwierig ist es, dieses Dunkelfeld auszuleuchten - und womöglich weitere Täter zu identifizieren?
Meyns: Natürlich umfasst die unabhängige Aufarbeitungsstudie auch ein Projekt zur Gesamtzahl der Fälle. Es soll klären, welche Dimensionen die sexualisierte Gewalt in der Kirche tatsächlich hat. Da dies ohne konkrete Hinweise schwierig ist, sollen, soweit möglich, die Personalakten Auskunft geben. Sofern im Einzelfall kein Disziplinarverfahren wegen entsprechender Vergehen verzeichnet ist, wird es komplizierter, Hinweise auf sexualisierte Gewalt zu finden. Um die Dimensionen des Missbrauchs in der Kirche darüber hinaus einordnen zu können, haben wir den Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung gebeten, eine Studie anzuregen, die das Dunkelfeld sexualisierter Gewalt in allen Institutionen bundesweit erhellt.
Womöglich weil es so schwer ist, Licht ins Dunkel zu bringen, fordern Betroffene eine Einbindung staatlicher Stellen in die Aufarbeitung, um maximale Unabhängigkeit zu garantieren. Wie stehen Sie dazu?
"Für eine Aufarbeitung, die diesen Namen verdient, müssen die Betroffenen intensiv beteiligt sein."
Meyns: Tatsächlich beraten wir mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, bereits, wie wir die institutionelle Aufarbeitung transparent, unabhängig und im Sinne der Betroffenen gestalten können.
Was tun Sie, um die Betroffenen am Prozess zu beteiligen?
Meyns: Seit dem Sommer gibt es einen zwölfköpfigen Betroffenenbeirat, der sich aus Personen zusammensetzt, die entweder selbst Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt haben oder Familienangehörige sind. Das Gremium konnte Corona-bedingt leider erst verspätet an den Start gehen. Ich bin überzeugt, dass der Betroffenenbeirat uns ein kritisches Gegenüber sein wird - und wo nötig, ein Korrektiv. Denn klar ist: Für eine Aufarbeitung, die diesen Namen verdient, müssen die Betroffenen intensiv beteiligt sein.