Gronemeyer: Kirche gehört an die Seite der Schwachen
27.10.2020
epd
epd-Gespräch: Stefanie Walter (epd)

Gießen (epd). Der Gießener Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer rät den Kirchen, in der jetzigen Krisenzeit "die Chance des Aufbruchs" zu nutzen. Viele Menschen seien einsam und trostlos, sagte Gronemeyer dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das könnte diese Zeit zu einer "Stunde der Kirche" machen.

"Auf der einen Seite steht: Die Kirche ist so überflüssig wie nie zuvor. Auf der anderen Seite steht: Die Kirche ist so notwendig wie nie zuvor", schreibt Gronemeyer in seinem aktuellen Buch "Der Niedergang der Kirchen - Eine Sternstunde?". Einer Studie zufolge sinkt die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland bis zum Jahr 2060 auf 22,7 Millionen. "Die Zahlen liegen auf dem Tisch", sagte der 81-jährige Gronemeyer.

Es gelte für die Kirchen jetzt, "sich radikal auf die Seite der Schwachen zu stellen", schreibt der Wissenschaftler. Die Kirche habe immer wieder mit Macht und Reichtum paktiert, doch heute seien Macht und Reichtum nicht mehr auf die Kirchen angewiesen.

Es gelte zur Kenntnis zu nehmen: "Die Reichen haben die Armen aufgegeben", sagte der Hochschullehrer. Die Klimakatastrophe werde "unendlich viele" Menschen in die Flucht treiben. "Wir übergeben unseren Kindern eine zerstörte Welt. Darauf muss sich die Kirche vorbereiten." Es sei die Stunde gekommen, "in der wir aufwachen müssen", forderte der Theologe. "Damit sind wir der Botschaft Jesu so nah."

Gronemeyer rief die Kirchen auf, eine "Mitgeschöpflichkeit" zu entdecken: "Wir müssen uns herablassen zu der von uns geschändeten Natur, den vor der Ausrottung stehenden und den in den Schlachthäusern gequälten Tieren." Da gehöre die Kirche hin, "das muss ins Zentrum der Botschaft rücken".

Ein "weiter so" wird es für den Wissenschaftler auch nach Ende der Corona-Pandemie nicht geben. Die Vorstellung etwa, man könnte mit den Möglichkeiten der Digitalisierung den alten Zustand weiterführen, sei eine Illusion. Die Begeisterung, mit der sich viele Pfarrer angesichts von ausfallenden Gottesdiensten und Hygienekonzepten auf die Digitalisierung stützten, habe "etwas Falsches". Es komme "nicht genügend Schmerz zum Ausdruck, dass wir nicht mehr beieinander sein dürfen".