Frankfurt a.M., La Paz (epd). Nach einem Jahr Übergangsregierung und politischem Chaos soll in Bolivien an diesem Sonntag ein neues Staatsoberhaupt gewählt werden. Dabei stehen die Chancen gut, dass Luis Arce (57) von der Partei Bewegung für den Sozialismus (MAS) zumindest die erste Wahlrunde für sich entscheidet. Der ehemalige Wirtschaftsminister unter Ex-Präsident Evo Morales liegt in Umfragen mit 34 Prozent vorn. Es folgt Carlos Mesa (67) von der Mitte-Rechts-Bewegung Comunidad Ciudadana, der auf etwa 28 Prozent kommt. Um eine Stichwahl zu vermeiden, müsste Arce allerdings mehr als 50 Prozent oder 40 Prozent der Stimmen und zehn Prozentpunkte Abstand zum Zweitplatzierten erreichen.
Bei einer Stichwahl, die für den 15. November anberaumt ist, werden Mesa indes gute Chancen für einen Sieg eingeräumt, wenn er die Stimmen der konservativen Opposition auf sich vereinen kann. Neben einem neuen Staatsoberhaupt sind die Bolivianer auch aufgerufen, über 36 Senatoren und die 130 Sitze im Abgeordnetenhaus abzustimmen. Das südamerikanische Land mit rund zwölf Millionen Einwohnern ist mit mehr als 8.400 Corona-Toten und rund 140.000 Infizierten schwer von der Pandemie getroffen. Die Wahlbehörde hat Sicherheitsmaßnahmen getroffen, so soll unter anderem in zwei zeitlichen Zyklen abgestimmt werden.
Bolivien ist seit knapp einem Jahr ohne gewählte Regierung und politisch tief gespalten. Dem sozialistischen Präsidenten Morales, der seit 2006 im Amt war, wurden bei der Wahl 2019 Manipulationen vorgeworfen. Er trat auf Druck des Militärs im November zurück. Seitdem befindet er sich im Exil, derzeit in Argentinien. Immer wieder kam es in Bolivien zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen seinen Anhängern und Gegnern. Die konservative Politikerin Jeanine Añez ernannte sich zur Übergangspräsidentin.
Morales wurde inzwischen wegen Terrorismus, Finanzierung terroristischer Aktivitäten und Anstiftung zu Aufruhr angeklagt. Die Staatsanwaltschaft stützt sich dabei lediglich auf ein Telefonat. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf der Interimsregierung Missbrauch der Justiz für politischen Zwecke vor. Morales' angestrebte Kandidatur für ein Senatorenamt wurde vom Verfassungsgericht untersagt, weil er keinen dauerhaften Wohnsitz in Bolivien habe.