Politikexperte vor EU-Gipfel: Deutlich höheres Klimaziel machbar
15.10.2020
epd
epd-Gespräch: Phillipp Saure

Brüssel, Berlin (epd). Der Berliner Politikexperte Andrzej Ancygier hat sich vor dem am Donnerstag beginnenden EU-Gipfel für ein deutlich höheres Klimaziel für 2030 als derzeit geplant ausgesprochen. Ideal und wirtschaftlich sinnvoll wäre eine Verringerung der CO2-Emissionen um 65 Prozent, sagte der Forscher des Climate-Analytics-Instituts dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Das Ziel muss den Versuch der EU widerspiegeln, die weltweite Führungsrolle bei der Bekämpfung des Klimawandels wiederzuerlangen."

Für diesen Gipfel rechne er aber noch nicht mit einem zahlenmäßigen Ziel, sagte Ancygier. Er hoffe stattdessen darauf, dass sich alle Staats- und Regierungschefs grundsätzlich "zu einem ehrgeizigen Ziel bekennen". Ein zahlenmäßiges Ziel werde voraussichtlich erst beim EU-Gipfel im Dezember verabredet und aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen 55 und 60 Prozent liegen. "Dann haben wir zumindest ein ehrgeizigeres Ziel als jetzt", erklärte der Politologe mit Blick auf das aktuelle Ziel für 2030. Es wurde 2014 beschlossen und sieht minus 40 Prozent CO2-Emissionen vor, jeweils verglichen mit 1990.

Der Klimaschutz ist eins der Hauptthemen des Treffens der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag in Brüssel. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft strebt eine Senkung um mindestens 55 Prozent bis 2030 an. "Man muss einen Kompromiss finden und darf die Länder nicht verlieren, die sonst einfach weiterverhandeln werden", erläuterte Ancygier. In der Vergangenheit hätten insbesondere Polen und weitere osteuropäische Länder gegen ehrgeizige EU-Klimaziele mobil gemacht, inzwischen löse sich der Ost-West-Gegensatz aber auf. Zum Beispiel plane Litauen, seine Energieversorgung bis 2050 komplett auf Erneuerbare umzustellen.

Neben der Diskussion des Ziels für 2030 solle der EU-Gipfel Weichen stellen, wie dieses zu erreichen wäre, forderte Ancygier. Hier gehe es zum Beispiel um die Einbeziehung der Schifffahrt in den Emissionshandel, die weitere Elektrifizierung des Autoverkehrs und die verstärkte Nutzung von Wasserstoff. "Wasserstoff brauchen wir vor allem in Sektoren wie dem Stahlsektor, wo die Dekarbonisierung am schwierigsten ist. Aber es muss 'grüner' Wasserstoff sein, also aus Wasser und erneuerbaren Energien erzeugt."

Über die Senkung der eigenen Reduktionen hinaus müsse die EU eine Senkung des Treibhausgasausstoßes in anderen Weltgegenden mitfinanzieren, forderte Ancygier. Das entspräche dem im Pariser Klimaabkommen vereinbarten sogenannten Equity-Ansatz (Gerechtigkeits-Ansatz), erläuterte der Forscher des internationalen Klimainstituts, das auch Büros in den USA, Togo und Australien betreibt. "Weil Europa in der Vergangenheit mehr zum Klimawandel beigetragen hat, einen höheren Treibhausgasausstoß pro Kopf und eine stärkere Wirtschaftskraft hat als andere Länder."