Halle (epd). In Halle ist am Freitag der Opfer des antisemitischen Anschlags im vergangenen Jahr gedacht worden. Bei der zentralen Gedenkveranstaltung in der Ulrichskirche rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Zusammenstehen der gesamten Gesellschaft gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Ausgrenzung auf. Menschenfeindlichkeit sei ein Angriff gegen die offene Gesellschaft und die Demokratie, sagte er. Nach dem Anschlag von Halle dürfe man nicht zur Tagesordnung übergehen.
Der Bundespräsident erinnerte an die Todesopfer, Verletzten und Traumatisierten des Anschlags vom 9. Oktober 2019. Aus rechtsextremistischer Gesinnung heraus hatte der Täter versucht, am wichtigen jüdischen Feiertag Jom Kippur in die Synagoge in Halle einzudringen. Er scheiterte an der Tür und ermordete danach eine Passantin und einen Mann in einem Döner-Imbiss.
In Halle sei ein Alptraum wahr geworden, "ausgerechnet in Deutschland, ausgerechnet an Jom Kippur", sagte Steinmeier. Er verwies auf die steigende Zahl judenfeindlicher Straftaten, nannte die Liste der Angriffe eine "Liste der Schande". Es erfülle ihn mit Scham und Zorn, dass es nötig sei, jüdische Gotteshäuser zu schützen und dass es für jüdische Kinder Alltag sei, schwer bewachte Kindergärten und Schulen zu besuchen. "Rechtsextremismus reicht tief hinein in unsere Gesellschaft", mahnte Steinmeier.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, sagte, ein normales Leben werde für die Gemeinde so bald nicht wieder möglich sein. "Wir sind empfindlicher geworden als früher", sagte er - auch mit Verweis auf Äußerungen von Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) über entstehende Personalengpässe bei der Polizei aufgrund der Schutzmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen. Der Gemeindevorsteher erinnerte aber auch an Zeichen der Solidarität wie die Menschenkette zwischen Synagoge und dem Döner-Imbiss.
Unter den Gästen der Gedenkfeier befanden sich neben Betroffenen und ihren Angehörigen auch der Präsident des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime, Aiman Mazyek, der mitteldeutsche Landesbischof Friedrich Kramer und der israelische Botschafter Jeremy Issacharoff.
Sachsen-Anhalt Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sagte, noch vor einem Jahr sei für ihn eine solche schreckliche Tat undenkbar gewesen. Er sicherte der jüdischen Gemeinschaft im Land die Unterstützung von Politik und Gesellschaft zu. Im Land entstünden derzeit zwei Synagogen. Das Gotteshaus in Dessau, aus dessen Gemeinde einst Moses Mendelsohn, "ein Landeskind", hervorgegangenen sei, könne in ein, zwei Jahren fertig sein.
Vor der Gedenkfeier war im Innenhof der Synagoge ein Mahnmal mit der beim Anschlag beschädigten Tür als Kernstück eingeweiht und eine Gedenktafel enthüllt worden. Dabei hatte Zentralrats-Präsident Schuster zu Respekt und Toleranz aufgerufen. In Erinnerung an das Attentat und an die beiden Todesopfer "werden wir uns noch viel stärker als bisher einsetzen für den Respekt vor den verschiedenen Religionen, einsetzen für Respekt vor unterschiedlicher Herkunft, einsetzen für die Menschenwürde", erklärte er.
Den ganzen Tag lang wurde in Halle auf vielfältige Art den Opfern des Anschlags gedacht. Um punkt 12.01 Uhr, dem Zeitpunkt, als vor einem Jahr die ersten Schüsse auf die Eingangstür des jüdischen Gotteshauses abgefeuert wurden, läuteten die Glocken aller Kirchen der Stadt. Mehrere hundert Menschen kamen auf dem zentralen Marktplatz der Aufforderung nach, für drei Minuten innezuhalten.