Stuttgarter Schulderklärung im "Verordnungs- und Nachrichtenblatt" der EKD im Januar 1946
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Der neue Rat der EKD kam am 18. und 19. Oktober 1945 in Stuttgart zusammen und verfasste die als "Stuttgarter Schuldbekenntnis" bezeichnete Erklärung. Die Veröffentlichung erfolgte im "Verordnungs- und Nachrichtenblatt" der EKD im Januar 1946. Das Dokument war an den Bischof von Chichester (England), den Bonhoeffer-Freund George Bell, gerichtet.
Echte Reue oder Ergebnis einer Erpressung?
Vor 75 Jahren wurde die Stuttgarter Schulderklärung unterzeichnet
Die Stuttgarter Schulderklärung ebnete vor 75 Jahren dem deutschen Protestantismus den Weg zurück in die Weltgemeinschaft. Aus heutiger Sicht wirkt sie halbherzig. Ein Kirchenhistoriker spricht sogar vom Resultat einer Erpressung.

Deutschland 1945: Die Städte liegen nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern, die Parolen vom "Endsieg" sind verhallt. Wie soll die evangelische Kirche auf diesen Zusammenbruch reagieren - eine Kirche, die sich in großen Teilen mit der nationalsozialistischen Sache gemein gemacht hat? Am 19. Oktober 1945 unterzeichnen protestantische Bischöfe und Kirchenpräsidenten in Stuttgart ein Schuldbekenntnis, das gleichzeitig einen Neuanfang signalisiert. Damit ernten sie vor 75 Jahren einen Sturm der Entrüstung.

"Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden", heißt es in dem Dokument. "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben." Zu den Unterzeichnern gehören amtierende und spätere Landesbischöfe sowie der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Verfasst wurde das Papier von Mitgliedern des Rats der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller.

Partner verlangen klares Wort der Deutschen

Der Kirchenhistoriker Gerhard Besier betrachtet das Papier als Ergebnis einer "Erpressung". Hochrangige Kirchenvertreter aus Ländern, gegen die kurz zuvor noch Krieg geführt worden war, hatten sich nach Stuttgart aufgemacht, um die Beziehungen zu den evangelischen Kirchen wieder aufzunehmen. Die weltweiten Ökumene-Partner haben laut Besier vorher deutlich gemacht, dass es nur Auslandshilfe für die notleidenden Deutschen gibt, wenn die Kirchen sich ihrer Mitverantwortung für die NS-Verbrechen stellen. "Die deutschen Kirchen hätten von sich aus keine Schulderklärung formuliert", sagt Besier dem Evangelischen Pressedienst.

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Tatsächlich schrieb Willem Adolf Visser 't Hooft, niederländischer Theologe und Leiter der ökumenischen Delegation in Stuttgart, später in seiner Autobiografie: "Wie sollten wir die Wiederaufnahme voller ökumenischer Beziehungen erreichen? Die Hindernisse für eine neue Gemeinschaft ließen sich nur beseitigen, wenn die deutsche Seite ein klares Wort fand." Die Botschaft an die Deutschen sollte lauten: "Wir sind gekommen, um Euch zu bitten, daß Ihr uns helft, Euch zu helfen."

Kein Wort zum Holocaust

Damit erklärt sich für Besier, der 1977 in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zum Pfarrer ordiniert wurde, auch, warum das Papier wesentliche Punkte umschifft. So ist der Massenmord an den Juden mit keiner Silbe erwähnt. Die Formulierungen im Komparativ ("nicht mutiger", "nicht treuer", "nicht brennender") können so verstanden werden, dass durchaus viel Mut, Treue und Brennen vorhanden gewesen seien, aber eben nicht genug. Die Verstrickungen mit dem Regime und das unselige Wirken der "Deutschen Christen" sowie der Antisemitismus in der Kirche finden keine Erwähnung.

Theophil Wurm war von 1945 bis 1949 Ratsvorsitzender der EKD.

Dabei waren einige der Unterzeichner durchaus auf riskanten Konfrontationskurs zum Regime gegangen. Der Berliner Generalsuperintendent Otto Dibelius etwa erhielt Predigtverbot und kam mehrfach ins Gefängnis. Der württembergische Landesbischof Theophil Wurm hatte die Eingliederung seiner Landeskirche in die Reichskirche verhindert und gegen das Euthanasieprogramm der Nazis protestiert, wofür er vorübergehend Hausarrest und später ebenfalls Schreib- und Predigtverbot erhielt.

Der frühere Berliner Bischof Otto Dibelius  war von 1949 bis 1961 Ratsvorsitzender der EKD.

Obwohl die Schulderklärung aus heutiger Sicht eher halbherzig wirkt, traf sie damals in Deutschland auf Ablehnung und Wut. Im hannoverschen Kirchenamt füllten die Protestbriefe ganze Kartons. Menschen sahen sich für Verbrechen in Mithaftung genommen, obwohl sie sich unschuldig fühlten. In ihrer Selbstwahrnehmung waren sie Opfer, nicht Täter.

Außerhalb Deutschlands zeigte das Bekenntnis den gewünschten Erfolg. Kirchengemeinden etwa in den USA schickten Hilfspakete an die ausgebombten Glaubensgeschwister. Auch einer Rehabilitierung deutscher Protestanten und einer Mitarbeit in weltweiten ökumenischen Gremien wurde der Weg gebahnt.

Kirchenhistoriker Besier wünschte sich heute ein milderes Urteil über die damals Verantwortlichen. Die führenden Kirchenmänner seien Kinder ihrer Zeit gewesen. Antisemitische Aussagen des württembergischen Bischofs Wurm und des führenden Vertreters der Bekennenden Kirche, Martin Niemöller, basierten auf Vorurteilen, die über Jahrhunderte in Mitteleuropa gepflegt worden und tief ins Bewusstsein gesunken seien. "Es ist falsch, die Maßstäbe von heute an das Jahr 1945 anzulegen", sagt der emeritierte Geschichtsprofessor.

Die EKD wird am Sonntag, 18. Oktober, bei einer zentralen Feier in Stuttgart an die vor 75 Jahren veröffentlichte Schulderklärung erinnern. Mit dabei sind der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sowie der geschäftsführende Generalsekretär des Ökumenischen Rats der Kirchen, Ioan Sauca. Gefeiert wird in der Markuskirche - jenem Gotteshaus, in dem 1945 deutsche und internationale Kirchenvertreter erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenkamen. In der Kirche befindet sich eine Gedenktafel mit dem vollen Wortlaut der Stuttgarter Schulderklärung.