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TV-Tipp: "Tatort: Ein paar Worte nach Mitternacht"
4. Oktober, ARD, 20.15 Uhr
Ein alter Mann feiert im Kreis von Angehörigen und Weggefährten in seinen Geburtstag hinein; er wird neunzig. In seiner Tischrede kündigt er eine letzte Wahrheit an, dann verlässt er die Runde und fährt heim. Am nächsten Tag wird seine Leiche gefunden.

Die Umstände erinnern an eine Hinrichtung, zumal er um den Hals ein Schild trägt, wie es einst SS-Schergen sogenannten Deserteuren umgehängt haben: "Ich war zu feige, für Deutschland zu kämpfen." Klaus Keller hat sich sein Leben lang für die Versöhnung zwischen Deutschen und Juden engagiert. Das jüngste Projekt des Bauunternehmers war ein Shoah-Zentrum in Israel. Spätestens jetzt ist für die jüdische Kommissarin Rubin (Meret Becker) klar, dass sie nichts mit dem Fall zu tun haben will: Sie vermutet rechtsradikale Motive, hat aber keine Lust, durch "braune Scheiße" zu waten; bei einer politisch motivierten Tat müsste der Staatsschutz übernehmen. Kollege Karow (Mark Waschke) sieht das anders und empfiehlt Gummistiefel. Tatsächlich häufen sich die Hinweise, dass der Mord auch familiäre Hintergründe haben könnte.

Die Geschichte ist verzwickt und hochinteressant, zumal es Christoph Darnstädt (Autor unter anderem der meisten "Tatort"-Krimis mit Til Schweiger sowie aller "Kroatien-Krimis") sehr plausibel gelungen ist, in sein Drehbuch sowohl die Zeit des Nationalsozialismus wie auch die deutsche Wiedervereinigung einzubeziehen. Schon allein die familiäre Konstellation ist faszinierend. Nach dem Mauerbau haben sich die Wege der Kellers getrennt: Klaus (Rolf Becker) hat in Westberlin sein Unternehmen aufgebaut, Bruder Gert (Friedhelm Ptok) hat Karriere im Ministerium für Staatssicherheit gemacht. Auch die Söhne könnten kaum unterschiedlicher sein: Michael (Stefan Kurt) hat die Firma des Vaters übernommen, Fredo (Jörg Schüttauf) ist Abgeordneter einer völkischen Partei. Als Holocaust-Leugner hätte er zwar ein Motiv, aber Sinn ergäbe die Tat nicht. Als das Ermittlerduo entdeckt, dass Klaus Keller einst Mitglied der Hitler-Jugend war, rückt unversehens Michael ins Visier der Ermittler: Wollte er verhindern, dass sein Vater diese Information als "letzte Wahrheit" preisgibt? Das würde die Firma womöglich das Israel-Projekt kosten, das Michael als Auftakt vieler Folgeaufträge betrachtet. Aber der Vater hat nie einen Hehl aus seiner Vergangenheit gemacht, im Gegenteil. Und warum hat sich kurz nach dem Mord auch Bruder Gert das Leben genommen?

Nicht zuletzt die vorzügliche Besetzung selbst kleinster Nebenrollen - Lina Wendel als Frau von Fredo, Katharina Matz als Witwe von Klaus, Stephan Grossmann als Historiker - deutet an, wie wichtig dem RBB dieser Film war. Trotz ihrer Komplexität wirkt die Handlung nicht überfrachtet, obwohl es noch weitere wichtige Mitwirkende gibt, allen voran die dritte Generation: Enkel Moritz (Leonard Scheicher) lenkt den Verdacht derart deutlich auf seinen Vater, dass er sich dadurch selbst verdächtig macht; aber er hat seinen Großvater geliebt und verehrt. Und dann ist da noch Kellnerin Ruth (Victoria Schulz), eigentlich Geschichtsstudentin, die für die einzige heitere Szene sorgt, als Karow sie zum Essen bei seinen Eltern mitbringt und sie als seine Freundin ausgibt; aber Ruth ist die Freundin von Moritz und hat irgendwie ihre Finger im Spiel.

Respekt gebührt auch Lena Knauss. Sie hat nach diversen Kurzfilmen 2019 ihr Kinodebüt gedreht ("Tagundnachtgleiche"); umso mehr Respekt verdient die Entscheidung der Fernsehfilmredaktion des RBB, ihr als erste Fernseharbeit gleich diesen wichtigen und zudem hochkomplizierten "Tatort" zu übertragen. Krimispannung im Sinn von Nervenkitzel hat der Film zwar nicht zu bieten, aber das wäre auch nicht im Sinne der Geschichte. Viel wichtiger war die Arbeit mit den ausnahmslos ausgezeichneten Schauspielern. Bei den namhaften Mitwirkenden ist das nicht weiter überraschend, aber gerade Leonard Scheicher macht seine Sache außerordentlich gut, obwohl er womöglich die schwierigste Rolle von allen spielt. Eine echte Überraschung ist auch die Lösung des Rätsels: Der Tod von Klaus Keller klärt sich erst, als Karow und Rubin auf ein Ereignis aus den letzten Kriegstagen stoßen. Es gibt dem Drama seine Überschrift: "Missbrauchte Kinder". Der Historiker verwendet den Begriff ebenso wie Klaus Kellers Witwe, als sie Rubin erzählt, wie sie als Mädchen die Nachbar denunziert hat, weil sie Juden versteckt haben; alle sind deportiert worden. Auch davon handelt Darnstädts Drehbuch, ohne das groß zu thematisieren: Ereignisse aus Jugend der Großeltern werfen ihre Schatten bis in die Enkelgeneration.