Halle-Prozess: Opfer aus Wiedersdorf sagen aus
Am 15. Verhandlungstag wurde vor Gericht die Flucht des Attentäters von Halle aufgearbeitet. Dazu sagte ein Paar aus, von dem der Angeklagte ein Fluchtauto erpressen wollte. Beide wurden von ihm angeschossen und schwer verletzt.

Magdeburg (epd). Im Prozess gegen den Synagogen-Attentäter von Halle ist am Mittwoch dessen Flucht aus der Stadt am 9. Oktober 2019 aufgerollt worden. Dazu sagten vor dem Oberlandesgericht Naumburg, das in Magdeburg verhandelt, ein 52-jähriger Zeuge und seine 51-jährige Lebensgefährtin aus, auf die Stephan B. in Wiedersdorf geschossen hatte. Beide wurden schwer verletzt. Der 52-Jährige berichtete, es habe an diesem Tag am Hoftor geklopft, er habe geöffnet und direkt in eine Pistole geblickt, die auf sein Gesicht zielte. Der Angeklagte habe ihn mehrfach nach dem Autoschlüssel gefragt und an seiner Waffe gespielt.

Der Attentäter schoss schließlich von hinten auf den Mann und traf ihn im Nacken. Ohne Vorwarnung habe B. auch auf seine Frau geschossen, die wegen "komischer Geräusche" in den Hof gelaufen war. Sie sei im Rücken getroffen worden, sagte die Zeugin. Der Angeklagte habe "rumgejammert wie ein Weichei, wie ein Muttersöhnchen", dass er ein Auto brauche, weil er verletzt sei. B. war zuvor bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Halle am Hals verletzt worden. Dabei war auch sein Fluchtauto beschädigt worden.

Als der Angeklagte den Hof verließ, hätten sie alle Türen abgeschlossen und die Polizei alarmiert, die sie aber erst nicht ernst genommen habe und erst nach 20 oder 25 Minuten gekommen sei, erklärte das Paar. Dann sei zunächst auch nur ein Polizist gekommen. Den Zeugen fiel es sichtlich schwer über die Ereignisse zu sprechen. Noch heute habe er ständige Kopfschmerzen, neben den körperlichen auch psychische Beschwerden, sagte der 52-Jährige: "Es ist ein komplett anderes Leben jetzt." Beide sind seit dem 9. Oktober 2019 arbeitsunfähig.

Unterstützung hätten sie bisher nur durch den Weißen Ring erhalten, sagte die 51-Jährige. Zudem habe ihnen jemand aus der Synagoge, der anonym bleiben wollte, einen Gutschein geschenkt: "Sie haben gemerkt, dass es uns gibt." Ansonsten seien die Verletzten irgendwie "hinten runtergefallen". Es habe drei Tatorte gegeben habe, nicht nur zwei. Auch weitere Anwohner aus dem von Halle etwa zehn Kilometer entfernten Wiedersdorf, die den Prozesstag als Zuschauer verfolgten, erläuterten, sie hätten den Eindruck, dass die Geschehnisse in ihrem 70 Einwohner zählenden Ort bisher immer in den Hintergrund gerückt worden seien.

Als weiterer Zeuge sagte ein 37-jähriger KfZ-Meister aus, den der Attentäter aufsuchte, nachdem er den Hof in Wiedersdorf verlassen hatte. B. erpresste sich dort ein Taxi. Er soll zu den drei Männern in der Werkstatt gesagt haben: "Ich bin ein gesuchter Schwerverbrecher. Ich habe da drüben schon zwei Menschen erschossen. Das will ich bei euch nicht machen." Auf die Frage eines Nebenklagevertreters, warum B. in Wiedersdorf angehalten habe, antwortete der Angeklagte: "Reiner Zufall." Er wäre nach Halle einfach geradeaus gefahren und vor Wiedersdorf sei ein zweiter Reifen an seinem Wagen geplatzt.

B. hatte am 9. Oktober 2019 aus einer antisemitischen Motivation heraus einen Anschlag auf die Synagoge in Halle verübt. Er schaffte es nicht, mit Sprengsätzen und Schusswaffen in die Synagoge zu gelangen, erschoss eine 40 Jahre alte Passantin und in einem Döner-Imbiss einen 20-Jährigen. B. ist wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in mehreren Fällen sowie weiterer Straftaten angeklagt.