Berlin, La Paz (epd). Die bolivianische Übergangsregierung missbraucht die Justiz nach Einschätzung von Menschenrechtlern für ihre politischen Zwecke. Es gebe Beweise für grundlose Verfolgung, unverhältnismäßige Anklagen, Verletzung der Meinungsfreiheit und weitere Fälle von unangebrachtem juristischen Vorgehen gegen die Opposition, erklärte Human Rights Watch bei der Veröffentlichung eines entsprechenden Berichts am Freitag. Die Regierung der selbsternannten konservativen Interimspräsidentin Jeanine Áñez übe Druck auf die Justiz aus, um die Unterstützer von Ex-Präsident Evo Morales zu verfolgen.
Der Sozialist war nach einer umstrittenen Wahl im Oktober 2019 auf Druck des Militärs zurückgetreten. Danach kam es im ganzen Land zu Protesten seiner Anhänger und zu Gewalt gegen Demonstranten. Seitdem habe es strafrechtliche Ermittlungen gegen mehr als 100 Unterstützerinnen und Unterstützer von Morales wegen angeblicher Verbindung zum Terrorismus gegeben, hieß es in dem Bericht. Gegen weitere Personen liefen strafrechtliche Ermittlungen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation und anderen Verbrechen. Viele der Fälle schienen politisch motiviert.
Auch die Anklage gegen Morales wegen öffentlicher Aufruhr und Terrorismus hält die Organisation für einen politischen Angriff. Die Staatsanwaltschaft berufe sich dabei auf ein Telefonat, in dem Morales angeblich Gewalt und Straßenblockaden angeordnet haben soll. Das Telefonat stütze aber solche Behauptungen nicht. Boliviens übertrieben strenges Terrorismusgesetz zu benutzen, um eine 20-jährige Haftstrafe gegen Morales zu erreichen, sei völlig unverhältnismäßig, erklärte die Organisation.
Die Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober 2019 wurden nach Wahlmanipulationen annulliert. Nach seinem erzwungenen Rücktritt hält sich Morales in Argentinien auf. Áñez wird auch vorgeworfen, dass die Polizei mit unverhältnismäßig hoher Gewalt gegen Anhänger von Morales vorgegangen war. Sie gewährte den Sicherheitskräften per Dekret Straffreiheit. Morales regierte das Andenland von 2006 bis November 2019.