Gütersloh, Berlin (epd). Die Wiedervereinigung vor 30 Jahren wird in Ost und West auch heute noch unterschiedlich wahrgenommen. Während die gesellschaftlichen Veränderungen für die Menschen im Osten Deutschlands eng mit teilweise dramatischen biografischen Umbrüchen verbunden seien, fehle Menschen im Westen häufig ein persönlicher Bezug zur Wiedervereinigung, erklärte die Bertelsmann Stiftung am Montag in Gütersloh unter Verweis auf eine aktuelle Studie. Menschen im Osten sähen die Einheit als Geschichte der friedlichen Revolution, die schließlich die Wende herbeigeführt habe. Nach der Wahrnehmung im Westen sei die DDR an ihren wirtschaftlichen und politischen Unzulänglichkeiten gescheitert, woraus zwangsläufig die Wiedervereinigung gefolgt sei.
Die Mehrheit der ostdeutschen Menschen (84 Prozent) habe der Studie zufolge den Eindruck, dass mit der Wiedervereinigung viele Dinge verloren gegangen seien, die in der DDR gut funktioniert hätten, erklärte die Stiftung weiter. Überwiegend hätten Befragte aus Ostdeutschland den Eindruck, dass nach der Wende keine neue gemeinsame Gesellschaft entstanden sei. Stattdessen sei ihnen nach ihrem Empfinden mit der Einheit das westdeutsche System übergestülpt worden, an das sie sich anpassen mussten, erklärte Jana Faus vom Berliner Forschungsinstitut Pollytix, das die Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt hat.
Von den älteren Ostdeutschen über 55 Jahren sind demnach 85 Prozent der Meinung, sie verdienten mehr Anerkennung für die friedliche Revolution. Ältere Westdeutsche hingegen würden mehr Anerkennung für die Finanzierung der Einheit reklamieren. Mehr als jeder zweite Ostdeutsche (60 Prozent) fühlt sich laut Umfrage als Bürger zweiter Klasse beurteilt, während dies der Studie zufolge lediglich jeder fünfte (21 Prozent) der Westdeutschen von den Ostdeutschen sagen.
Für rund 90 Prozent der Befragten in Ost- und Westdeutschland sei die Wiedervereinigung ein Ereignis, das in den vergangenen 30 Jahren großen oder sehr großen Einfluss auf das Land hatte, hieß es weiter. Damit liege sie mit ihrem Einfluss knapp vor der aktuellen Corona-Krise sowie der sogenannten Flüchtlingskrise 2015. Im Leben der Westdeutschen spiele die Frage, ob jemand aus dem Osten oder Westen komme, eine untergeordnete Rolle. Für die Ostdeutschen hingegen sei ihre Herkunft auch heute noch ein deutlich entscheidender Teil ihrer Identität, erklärte die Bertelsmann Stiftung.
Für die Studie wurden in ost- und westdeutschen Städten 50 Tiefeninterviews sowie Gruppendiskussionen geführt. Anschließend wurden die Ergebnisse in einer repräsentativen Online-Befragung mit mehr als 1.580 Menschen überprüft.