Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte – nachdem der König Jechonja und die Königinmutter mit den Kämmerern und Oberen in Juda und Jerusalem samt den Zimmerleuten und Schmieden aus Jerusalem weggeführt waren –, durch Elasa, den Sohn Schafans, und Gemarja, den Sohn Hilkijas, die Zedekia, der König von Juda, nach Babel sandte zu Nebukadnezar, dem König von Babel:
So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohlgeht, so geht's euch auch wohl. Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen!
Jeremia 29,1–8 (hier gelesen von Helge Heynold)
Liebe Weggeführte in merkwürdigen Zeiten,
sehnen Sie sich auch nach Normalität? Ich selbst habe gerade ein großes Verlangen nach Zeiten, in denen ich nicht nachdenken musste, wie ich jemand anderen begrüße, sondern mich einfach auf das verlassen konnte, was ich jahrelang gelernt hatte. Ich mag nicht noch einmal nach Hause gehen, weil ich vergessen habe, meine Maske zum Einkaufen mitzunehmen. Ich möchte nicht zählen, ob ich vielleicht schon zu viele Menschen zu einer Geburtstagsfeier eingeladen habe. Ich will wieder ins Kino, ins Theater und in eine Kirche, in der ich anderen nah sein darf. Ich will mir keine Sorgen um Freunde machen müssen, die nicht genügend Geld wegen der Einschränkungen verdienen. Ich fühle mich durch die Einschränkungen mürbe gemacht, weil ich natürlich weiß, dass all das sein muss. Das Ganze wird dadurch noch schlimmer, wenn andere, die ebenso empfinden, einfach die Tatsachen ignorieren und alle Vorsicht und Rücksicht über den Haufen werfen. Die Realität ist wirklich bedrückend. Viel ärger noch wird es, wenn man anfängt, die Realität zu leugnen. Darum ist es verständlich, dass besonnene Menschen dazu aufrufen, sich in einer „neuen Normalität“ einzurichten. Wenn das doch nur einfacher wäre!
Der Bibeltext für diese Woche stammt auch aus einer Krisenzeit. Der Prophet Jeremia schreibt einen Brief im Namen Gottes an die Menschen seines Volkes Israel, die nach der Eroberung ihres Landes nach Babylon verschleppt wurden. Sie wurden dort angesiedelt, damit sie in ihrem Heimatland keinen Widerstand gegen die Besatzungsmacht organisieren konnten. In Babylon hatten die „Weggeführten“ einige Freiheit. Sie durften zum Beispiel weiterhin ihrem Gott dienen. Aber der Tempel war zerstört und ohnehin in Jerusalem. Es war nicht abzusehen, wie lang das Exil andauern würde, und es stellte sich wie heute die Frage: Wie sehr wollen und können wir uns in dieser „neuen Normalität“ einrichten? Sollen wir unter uns bleiben und immer bereit, wieder zurück ins Gelobte Land zu gehen? Sozusagen auf gepackten Koffern sitzen? Wie soll man leben in einer Umgebung, die man sich nicht ausgesucht hat und der man eigentlich nur das Schlimmste wünscht? Die Sehnsucht nach dem normalen Leben ist in der Gefangenschaft so mächtig, dass man zu dem Schluss kommen kann: Wirkliches Leben gibt es hier im Grunde gar nicht.
Darum schreibt Jeremia an die Gefangenen. Darum lässt er ihnen von Gott höchstpersönlich ausrichten: Lebt! Tut all das Übliche, das Alltägliche, das ihr in der gegenwärtigen Situation tun könnt! Jeremia macht deutlich: Richtet euch ein! Die Situation, in der ihr gerade steckt, ist eure Lebenszeit. Ihr habt es in der Hand, diese Zeit zu gestalten – bei allen Einschränkungen. Sucht der verhassten Stadt Babylons Bestes! Wartet nicht darauf, dass ihr in die Normalität zurückkehren dürft, sondern werdet aktiv! Pflanzt Gärten, baut Häuser, zeugt Kinder! Schafft euch eine Zukunft!
Diesen Appell kann ich mir gut zu Herzen nehmen, weil er nicht einfach sagt: „Richte dich eben ein in der Gegenwart.“ Jeremia schaut über das Ende der Krise hinaus, ohne seine Leute auf dieses Ende zu vertrösten. Er sagt: „In Gottes Namen lebt, damit ihr auch nach der Krise leben könnt!“ Ich kann mir vorstellen, dass die Empfänger dieses Briefes erleichtert waren und sich ermutigt fühlten. Schließlich sind all die Dinge, zu denen Jeremia auffordert, echte Glücklich-Macher. Wer an der Zukunft baut, arbeitet fröhlicher als jemand, der lediglich versucht, die Gegenwart zu überstehen. Ich habe viel gesehen und erlebt in dieser Zeit, das taugt für die Zukunft – ganz gleich, ob mit oder ohne Corona. Das will ich mir immer wieder vor Augen halten.
Ich schmunzle, während ich meine Wochenaufgabe für Sie formuliere, weil ich mir vorstelle, was Sie jetzt wohl erwarten: Einen Garten pflanzen? Ein Haus bauen? Ein Kind zeugen? Nun, wenn Sie meine Zuversichts-Mails verfolgen, wissen Sie, dass ich gar so große Aufgaben nicht stelle. Vielmehr möchte ich Sie bitten: Schreiben Sie einen Brief! Einen mit Papier und Umschlag und Briefmarke, den Sie jemandem schicken, der das gerade gebrauchen kann. Den Inhalt Ihres Briefes gebe ich nicht vor. Er wird sich ergeben, wenn Sie beginnen.
Gott segne Sie!
Ihr Frank Muchlinsky