Ein kleiner Schatz verbirgt sich an der Unterseite der Treppenstufen und an weiteren Stellen im Gemäuer des Turms der Bad Segeberger Marienkirche: Hunderte Konfirmanden, Handwerker und viele andere Unbekannte haben sich mit ihrer Signatur verewigt. Kirchenlotse Günther Gathemann hat die Graffitis mit Pastorin Rebecca Lenz entdeckt.
Es sind völlig unterschiedliche Einträge. Manche Schriftzüge sind mit Bleistift fein-säuberlich geschrieben, andere in gut 20 Zentimeter großen Kreide-Lettern gekrakelt. Die Namen, Jahreszahlen, dazu notierte Wörter und kurze Sinnsprüche verteilen sich über einen großen Teil des Gemäuers. Der älteste Eintrag, der bisher entdeckt wurde, stammt von 1888. Für Gathemann eine Art historische Schatzkiste: "Der gesamte Turm lädt zu einer Zeitreise ein."
Für die Öffentlichkeit ist der Turm gesperrt, da die gut drei Stockwerke hohe Wendeltreppe aus Holz statisch nicht mehr als ausreichend sicher gilt. Die romanische Backsteinkirche St. Marien stammt aus dem Jahr 1156. "Die Jugendlichen waren damals auch nicht anders als heute", sagt Pastorin Lenz. Es sei ein Urbedürfnis des Menschen, Spuren zu hinterlassen. "Durch die Graffiti reden wir bis heute über sie und denken an sie."
Offenbar war es früher Tradition, dass die Pastoren mit den Konfirmanden einmal in den Turm stiegen. Passte der Seelsorger dann nicht auf, nutzten die Jugendlichen die Gunst der Stunde und hinterließen ihre Unterschrift. "Ich denke, das war ungestümer Schabernack", sagt Gathemann, "das war bestimmt nicht offizieller Teil des Konfirmandenunterrichts."
Auch späterer Probst verewigte sich im Turm
Manche der Namen sind in der Region bis heute bekannt - im Guten wie im Schlechten. Den 5. Oktober 1946 hatte sich etwa Jörgen Sontag dafür ausgesucht, sein Autogramm im Turm zu hinterlassen: "Er wurde später Pastor und dann Propst", weiß Lenz. Der Theologe habe ihren Mann getauft und schließlich konfirmiert: Sontag lebt bis heute in der Region.
Ein anderer , der 1906 in Hamburg geboren wurde und in Bad Segeberg aufwuchs, schrieb am 13. September 1918 seinen Namen als Konfirmand auf den Uhrenschrank. Doch 1933, im Jahr der Machtergreifung Hitlers, war er bereits dessen glühender Anhänger und Segeberg eine Hochburg der Nationalsozialisten, so Kirchenlotse Gathemann. Nach dem verlorenen Weltkrieg habe der Mann zehn Jahre in Strafgefangenenlagern in Russland gesessen. "Trotzdem blieb er ein überzeugter Nazi, bis zu seinem Tod."
Auch Handwerker, die Dach- und Zimmererarbeiten ausführten, schrieben damals ihre Namen gleich neben das Gewerk. Gut möglich, dass bald neue Graffiti hinzukommen, denn ab 2021 werden im zweiten Bauabschnitt der großen Sanierung der Marienkirche Wände und Gewölbe des Mittelschiffs restauriert. Die uralte Wendeltreppe muss dann weichen, doch die Graffiti an ihrer Unterseite sollen fortbestehen: "Die wollen wir in irgendeiner Form aufbewahren", sagt Lenz. Vielleicht startet sie eine Aktion dazu, wer sich in dem Gekritzel wiedererkennt.