Gütersloh (epd). Der Ausbau des gemeinsamen Unterrichts von Schülern mit und ohne Behinderung kommt laut einer neuen Studie nur schleppend voran. Der Anteil der Kinder, die an Förderschulen unterrichtet werden, sei in den letzten zehn Jahren kaum gesunken und in manchen Bundesländern sogar gestiegen, erklärte die Bertelsmann Stiftung bei der Vorstellung der Untersuchung am Donnerstag in Gütersloh. Während im Schuljahr 2008/09 4,8 Prozent der Mädchen und Jungen der ersten bis zehnten Klassen Förderschulen besuchten, waren es demnach 2018/19 immer noch 4,2 Prozent. Der Verband Bildung und Erziehung erklärte, Versprechungen der Politik reichten nicht aus, an Schulen müssten auch die Voraussetzungen geschaffen werden.
Der Blick in die Bundesländer zeige beim Abbau des "exklusiven" Lernens große Unterschiede, heißt es in der Studie: Die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg sowie das Flächenland Schleswig-Holstein machten demnach in dem Zehn-Jahres-Zeitraum deutliche Fortschritte. In Ländern wie Baden-Württemberg, Bayern oder Rheinland-Pfalz sei der Anteil der Kinder und Jugendlichen auf Förderschulen jedoch noch gestiegen. Diese sogenannte "Exklusionsquote" liegt den Angaben zufolge derzeit zwischen 0,9 Prozent in Bremen und 6,1 Prozent in Sachsen-Anhalt. In Nordrhein-Westfalen beträgt sie 4,6.
Mehr als zehn Jahre nach dem Beitritt zur UN-Behindertenrechtskonvention tue sich Deutschland trotz "punktueller Fortschritte" bei der Annäherung an deren Vorgaben schwer, beklagte die Stiftung. Mit einer Trendwende sei laut einer Vorausberechnung der Kultusministerkonferenz auch in den kommenden Jahren nicht zu rechnen.
Dabei befürworten der Studie zufolge mit 94 Prozent nahezu alle Eltern schulpflichtiger Kinder das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne körperliche Beeinträchtigung. Auch der inklusive Unterricht mit Kindern mit Sprach- oder Lernschwierigkeiten stößt mit 71 beziehungsweise 66 Prozent auf breite Zustimmung, wie eine von der Stiftung in Auftrag gegebene Umfrage ergab.
Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf erzielten in inklusiven Klassen durchschnittlich bessere Resultate und erreichten öfter den Hauptschulabschluss als jene in Förderschulen, heißt es in der Untersuchung weiter. Der "nachweisliche Lernerfolg" und die positiven Einstellungen der Eltern zeigten, dass mehr Inklusion möglich sei, sagte der Vorstand der Bertelsmann Stiftung, Jörg Dräger. Die Politik solle sich diesen Rückenwind zunutze machen und in den nächsten Jahren deutlich mehr Mut zur Inklusion zeigen, meinte Dräger.
Mütter und Väter inklusiv lernender Kinder seien zudem laut der Umfrage insgesamt zufriedener mit den Schulen, Klassen und Lehrkräften. Demgegenüber äußerten sich Eltern, deren Söhne und Töchter eine nicht inklusive Schule besuchten, verhalten zu den Potenzialen von Inklusion. Kritische Rückmeldungen habe es vor allem zur Raum- und Personalausstattung inklusiver Schulen gegeben - sowohl von Eltern als auch von Lehrern. Aktuelle Befragungen unter Lehrkräften zeigen laut Bertelsmann Stiftung zudem, dass sich ein Drittel bis die Hälfte für die Arbeit in inklusiven Klassen "unzureichend vorbereitet und schlecht begleitet" fühle.
Der Verband Bildung und Erziehung mahnte mehr Unterstützung für die Schulen an. Das beginne bei den schulbaulichen Voraussetzungen, reiche über eine inklusionsfreundliche Schulkultur und müsse die Fortbildung der Lehrkräfte unbedingt im Blick haben, erklärte der Bundesvorsitzende Udo Beckmann. Die Schulschließungen wegen der Corona-Pandemie hätten zudem gezeigt, "dass wir insbesondere für die Kinder mit Förderbedarfen kaum Lösungen anbieten können und sie gleichzeitig nur sehr eingeschränkt von ihren Eltern unterstützt werden können". Auch bei den Schulöffnungen werde an diese Kinder kaum gedacht.
Für die vorgelegte Studie hat die Bertelsmann Stiftung nach eigenen Angaben aktuelle Dokumentationen der Kultusministerkonferenz ausgewertet. Zudem seien im Sommer 2019 rund 4.000 Eltern schulpflichtiger Kinder repräsentativ zu ihrer Sichtweise auf schulische Inklusion befragt worden.