Nach dem Ersten Weltkrieg war Schluss mit der uralten Allianz von Thron und Altar, die Weimarer Reichsverfassung trennte Staat und Kirche. Für die Evangelische Landeskirche in Württemberg bedeutete das, dass sie selbst eine neue Verfassung brauchte, nachdem der württembergische König Wilhelm II. von der Leitung der Kirche zurückgetreten war. Vor 100 Jahren, am 24. Juni 1920 - dem Geburtstag des württembergischen Reformators Johannes Brenz (1499 - 1570) -, wurde die Verfassung verkündet.
Zu entscheiden gab es vieles: Wollte man die Urwahl beibehalten, bei der das Kirchenparlament (Synode) unmittelbar vom Kirchenvolk und nicht durch zwischengeschaltete Gremien gewählt wird? Hier blieben die Verantwortlichen bei der Basisdemokratie. Fast die Hälfte der evangelischen Landeskirchen in Deutschland entschied sich damals ebenfalls so, schaffte die Urwahl in den Folgejahrzehnten aber nach und nach ab. Inzwischen ist die direkte Synodenwahl ein Alleinstellungsmerkmal der Württemberger.
Nicht auf Anhieb Landesbischof als geistlicher Leiter
Einen Bischof als geistlichen Leiter wollte man zunächst nicht in die Verfassung schreiben. Die Versammlung zog einen "Kirchenpräsidenten" vor, um auch Nichttheologen die Chance auf das Amt zu geben. Diese Entscheidung war nicht von Dauer, ab 1933 gab es dann doch einen Landesbischof. Die Position besetzte Theophil Wurm, der 1929 noch zum Kirchenpräsidenten gewählt worden war und der die Landeskirche dann durch die schwierige Zeit des Nationalsozialismus manövrierte. Interessanterweise schreibt das württembergische Kirchenrecht bis heute nicht vor, dass ein Landesbischof Theologe sein muss.
Mit all diesen Verfassungsfragen befassten sich die Delegierten vor 100 Jahren im Stuttgarter CVJM-Haus, in dem heute die Furtbachklinik untergebracht ist. Das Gremium machte die Landessynode zum obersten Organ der Landeskirche und legte fest, dass die Württemberger lutherisch bleiben, wobei das Bekenntnis von der kirchlichen Gesetzgebung ausgeschlossen wurde und damit unantastbar ist.
Forderungen nach Reformen
Ist das 100 Jahre alte Grundgesetz für die Landeskirche heute noch zeitgemäß? Darüber gehen die Meinungen in der Landessynode auseinander. Die künftig stärkste Gruppierung der Synode, die "Offene Kirche", hatte vor der jüngsten Kirchenwahl weitreichende Forderungen erhoben. Die synodalen Gesprächskreise sollen ihrer Ansicht nach Verfassungsrang bekommen, der Oberkirchenrat durch die Landessynode kontrolliert werden. Dazu soll es - wie in einem weltlichen Parlament - künftig kleine und große Anfragen sowie die Möglichkeit von Untersuchungsausschüssen geben.
Skeptisch sieht das der neue Vorsitzende des Rechtsausschusses der Synode, Christoph Müller ("Lebendige Gemeinde"). Die Verankerung der Gesprächskreise in der Verfassung würde eine "Politisierung der Kirche" bedeuten, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dem Ausschuss lägen bislang keine Anträge auf Verfassungsänderungen vor. Müller favorisiert, Reformen im landeskirchlichen Betrieb außerhalb der Verfassung durch Gesetze und Verordnungen zu regeln.
Auch der Gesprächskreis "Kirche für morgen" möchte die Macht des Oberkirchenrats begrenzen und stattdessen eine klarere Gewaltenteilung einführen. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass solche Wünsche umgesetzt werden, denn die anderen beiden Gesprächskreise "Lebendige Gemeinde" und "Evangelium und Kirche" haben deutlich gemacht, dass sie bei der Kirchenverfassung kaum Handlungsbedarf sehen. Für Verfassungsänderungen braucht es aber eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Synode.
Selbsbewusste Synode
Vielleicht kommt noch eine Idee auf die Tagesordnung, die von der früheren Synodalpräsidentin Inge Schneider ("Lebendige Gemeinde") ins Spiel gebracht worden war. Aus ihrer Sicht sei zu überlegen, ob wirklich nur der Landesbischof die Landeskirche nach außen vertritt, wie es in der Verfassung heißt, oder ob hier auch die Synode, beziehungsweise ihre Präsidentin, erwähnt werden sollte. Denn die Synode habe durchaus das Selbstverständnis, dass auch sie die Kirche repräsentiere, sagte Schneider dem epd.
Die vor 100 Jahren beschlossene neue Kirchenverfassung trat übrigens nicht sofort in Kraft. Dazu musste erst das Deutsche Reich ein Gesetz über die Kirchen verabschieden, das am 1. April 1924 wirksam wurde.