Wissenschaftler: Bürger sollen Verschwörungsideologien sozial ächten

Mülheim/Ruhr (epd). Der Berliner Politikwissenschaftler Jan Rathje hält die soziale Ächtung für ein geeignetes Mittel gegen die zunehmende Attraktivität von Verschwörungsideologien. Dazu zähle eine klare Benennung menschenfeindlicher Inhalte und eine Verdrängung aus dem öffentlichen Diskurs, um der Ideologie keinen Raum zu bieten, sagte Rathje am Freitag in Mülheim an der Ruhr. Ein Gespräch auf Augenhöhe sei bei gegenteiligen Meinungen zwar wichtig. Aber "jetzt ist nicht mehr die Zeit für eine Intervention in der Öffentlichkeit, das muss man privat machen", erklärte der Rechtsextremismus-Experte der Amadeu Antonio Stiftung.

Gleichzeitig räumte Rathje ein, dass die Kehrseite einer solchen Strategie eine weitere Abschottung und Radikalisierung einzelner sein könne. Als Option nannte der Wissenschaftler das sogenannte Debunking, ein Entlarven und Widerlegen von Argumenten, wie es etwa das ARD-Format "Faktenfinder" mache. Wichtig sei außerdem herauszufinden, ob jemand Sympathisant, Mitläufer, bereits Aktivist oder Kader sei, empfahl Rathje. "Sympathisanten und Mitläufer sind noch empfänglich für Widerspruch", so seine Erfahrung aus der politischen Bildungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen.

"Menschen radikalisieren sich nach und nach, das ist ein Prozess", erläuterte Rathje, der das Projekt "No World Order" über Antisemitismus und Verschwörungsideologien bei der Amadeu Antonio Stiftung leitet. So seien bei vielen Teilnehmern der Proteste gegen die Corona-Beschränkungen möglicherweise latent vorhandene Einstellungen durch die Krise getriggert worden. Allen gemeinsam im "verschwörungsideologischen Milieu" sei ein dualistisches Weltbild von Gut und Böse und dass sie eine widerspruchsfreie Gesellschaft suchten.

Rathje warnte vor einer Delegitimisierung demokratischer Standards wie Pluralismus, Streitkultur und Minderheitenrechte sowie vor einem wachsenden Antisemitismus. So sei der historische Vorwurf von der Brunnenvergiftung durch Juden etwa in der Behauptung wieder aufgelebt, das Coronavirus stamme aus in einem Labor, um die Weltbevölkerung zu reduzieren und zu beherrschen, erklärte der Politikwissenschaftler bei einer Veranstaltung der katholischen Akademie Die Wolfsburg. Wegen der vielen derzeit kursierenden Mythen zum Virus plädierte er dafür, statt von Verschwörungstheorien von Verschwörungsideologien zu sprechen.