Mehr als ein Vierteljahrhundert war Erwin Stier auf dem Augsburger Protestantischen Friedhof beschäftigt, über 20 Jahre lang war er dessen Leiter. Noch heute führt Stier, inzwischen als Rentner, normalerweise mindestens zwei Mal im Jahr durch das parkähnliche Gelände. Durch die Corona-Pandemie wurden auch die Führungen verschoben, die nächste aber soll an Allerheiligen wieder stattfinden. "Hier hat jeder Stein eine eigene Geschichte", erzählt Stier, der zusammen mit dem Augsburger Stadtführer an der Volkshochschule, Werner Bichler, ein Buch darüber geschrieben hat, das Ende des vergangenen Jahres in zweiter Auflage erschienen ist.
"Dieses altertümliche Flair spürt man in jeder Ecke des Friedhofs", sagt Stier, der auch privat noch häufig auf dem Friedhof anzutreffen ist, um das Grab seiner Großmutter zu pflegen. "Dieser Friedhof verbindet Altes und Neues perfekt miteinander, zumal wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch viel in Zusammenarbeit mit dem Denkmalschutz erhalten und erneuern konnten wie etwa viele Galvanerfiguren", erzählt der ehemalige Friedhofsleiter.
Seit 1534 besteht der Friedhof in Augsburg und ist somit der älteste, auf dem noch Beerdigungen durchgeführt werden. Es gibt den Alten Teil mit Aufbahrungshalle und Kirche sowie den später hinzugekommenen Süd- und Nordteil. Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 ist der Friedhof gemeinsames Eigentum der fünf evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden der Innenstadt: St. Anna, St. Jakob, St. Ulrich, Hl. Kreuz und Zu den Barfüßern, zusammengeschlossen in der "Protestantischen Allgemeinen Kirchenstiftung".
Im Jahr 1700 wurde das Verwaltungsgebäude erbaut und ist das älteste genutzte Gebäude auf dem Friedhof. Es wurde 1991 restauriert. Die 1825 erbaute Kirche wurde von 1986 bis 1988 restauriert. Die 1837 errichtete Aufbahrungshalle wurde 1964 umgebaut, 1989 instandgesetzt und renoviert. Zahlreiche interessante Skulpturen, Stein- und Grabdenkmäler aus dem 17. Jahrhundert befinden sich auf dem Friedhof, ebenso wie architektonisch aufwendige Gräber des Klassizismus und der Neugotik.
Seit den 1960er-Jahren dürfen hier nicht mehr nur Protestanten begraben werden, auch Katholiken oder Konfessionslose finden hier seither eine Grabstelle. Denn lange Zeit wurden auf dem Areal im Stadtteil Hochfeld nur Evangelische beerdigt, etwa die verstorbenen Augsburger Diakonissen oder auch viel Prominenz wie Angehörige der Familie Schaezler, die Familie der Welser, Augsburgs größte Wohltäterin und Schulgründerin Anna Barbara von Stetten, der Renaissance-Baumeister Elias Holl, die Eltern von Bert Brecht oder Angehörige der Familien Riedinger, Klaucke und Firnhaber.
"Das ist einfach ein faszinierender Ort mit einer besonderen Atmosphäre", sagt die Augsburger evangelische Pfarrerin Gesine Beck, die seit Pfingstsonntag nach der coronabedingten Unterbrechung wieder die Reihe der abendlichen Gottesdienste um 18 Uhr auf dem Friedhof eröffnet hatte. Für sie ist das parkähnliche Gelände wie ein großer Garten, ein Gottesacker, der "etwas Hoffnung Spendendes" habe. Das gehe auch vielen Gottesdienstbesuchern so, erzählt die Theologin, die dann sonntagabends bei den eher kurzformatigen Predigten und Andachten "ihre Woche abschließen und für die neue Woche auftanken".
Auch ihr Ehemann, Pfarrer Martin Beck, gerät ins Schwärmen, wenn er über den Friedhof spricht. "Ich bin von dem Ort ganz angetan, der in der Reformation angelegt wurde als Friedhof für die Evangelischen", sagt Pfarrer Beck. Das besondere Flair entstehe durch das Zusammenspiel von alten Skulpturen und Grabstätten sowie der Gestaltung mit kostbaren Pflanzen und Bäumen.