Die gute Nachricht zuerst: Noch gibt es keinen bestätigten Corona-Fall in überfüllten Flüchtlingslagern wie Moria auf Lesbos, Kutupalong in Bangladesch oder Bidi Bidi in Uganda. Doch angesichts der Ausbreitung des Virus auch im globalen Süden scheint das nur eine Frage der Zeit zu sein. Hilfsorganisationen wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, Oxfam oder Ärzte ohne Grenzen versuchen, die Bewohner und Mitarbeiter auf den Ernstfall vorzubereiten.
"Das Risiko einer Ausbreitung von Covid-19 ist in überfüllten Flüchtlingslagern in Asien, dem Nahen Osten und Teilen Afrikas extrem hoch", sagt Steffen Küßner, Pressesprecher von Oxfam Deutschland. "Das würde dort mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer humanitären Katastrophe führen." Viele Camp-Bewohner hätten nur unzureichend Zugang zu fließendem Wasser. Es sei zudem nahezu unmöglich, überfüllte Plätze zu meiden oder sich in den eigenen vier Wänden zu isolieren.
Etwa 2,6 Millionen Menschen leben dem UNHCR zufolge derzeit in Flüchtlingslagern. Alleine in Kutupalong in Bangladesch, dem größten Flüchtlingscamp der Welt, leben 640.000 aus Myanmar geflüchtete Rohingya dicht zusammengedrängt auf einer Fläche von 13 Quadratkilometern. In den Lagern Dadaab in Kenia und Bidi Bidi in Uganda sind jeweils fast eine Viertel Millionen Schutzsuchende untergekommen. Und auch im jordanischen Zataari-Camp leben 76.000 Flüchtlinge, vor allem aus Syrien.
Geflüchtete drohen in Vergessenheit zu geraten
Während viele Regierungen in ihren eigenen Ländern mit der Corona-Krise kämpfen, drohen die Geflüchteten in den Camps in Vergessenheit zu geraten. Deutschland hat die humanitäre Aufnahme von besonders gefährdeten Schutzsuchenden bereits Mitte März ausgesetzt. Bei der Vorstellung eines Corona-Nothilfeplans appellierte der UN-Generalsekretär António Guterres am vergangenen Mittwoch an die Weltgemeinschaft, hilfsbedürftige Menschen in Krisenländern nicht aus dem Blick zu verlieren.
Zur Finanzierung des Nothilfeplans der Vereinten Nationen fordert Guterres zwei Milliarden US-Dollar von der internationalen Gemeinschaft. Davon sind rund 255 Millionen US-Dollar für das UNHCR vorgesehen, unter anderem für den Bau von zusätzlichen Sanitäranlagen sowie die Finanzierung von Laborausrüstung und Informationskampagnen in Flüchtlingslagern. Auch Oxfam und Ärzte ohne Grenzen investieren in Hygienestationen, medizinische Schutzausrüstung und Aufklärung.
Bewohner in Sachen Hygieneregeln geschult
Im Flüchtlingslager Kutupalong in Bangladesch kann das UNHCR auf etablierte Strukturen zurückgreifen. Um die Bewohner über Covid-19 und geeignete Schutzmaßnahmen zu informieren, komme ein ursprünglich für die Zyklonsaison im Frühjahr entwickeltes Multiplikatorensystem zum Einsatz, sagt UNHCR-Pressesprecher Chris Melzer. So habe man 180 Bewohner in Sachen Vorsichtsmaßnahmen und Hygieneregeln geschult, die ihr Wissen nun an 1400 weitere Bewohner weitergeben – und die sollen wiederum ihre Familie unterrichten. Grundsätzlich ähnelten die jetzt ergriffenen Maßnahmen der Vorbereitung auf andere Infektionskrankheiten wie Cholera, sagt Melzer. "Covid-19 stellt uns vor enorme Herausforderungen, aber es gibt vorgefertigte Pläne, auf die wir jetzt zurückgreifen können."
Eine besondere Anforderung für die humanitären Helferinnen und Helfer in den Flüchtlingslagern ist die globale Dimension der Corona-Pandemie. Die Ärztin und Epidemiologin Anna Kühne arbeitet als epidemiologische Beraterin für Ärzte ohne Grenzen. In der Vergangenheit hatte sie mit dem Ausbruch von Infektionskrankheiten wie Cholera, Masern oder Ebola in Ländern des globalen Südens zu tun. "Neu ist, dass alle Länder auf die eine oder andere Weise von Covid-19 betroffen sind", sagt sie. Die Reisebeschränkungen erschwerten Helfern den Zugang in die Flüchtlingscamps. Aufgrund der globalen Engpässe sei es zudem schwierig, ausreichend Schutzkleidung oder Testkits zu bekommen.
Noch versuchen die Hilfsorganisationen zu verhindern, dass Covid-19 überhaupt in Flüchtlingslagern ausbricht. Doch viele Vorsichtsmaßnahmen wirken in den dicht besiedelten Camps wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Distanz zu wahren, sich regelmäßig die Hände zu waschen oder erkrankte Menschen zu isolieren, sei in den meisten Flüchtlingslagern nicht möglich, sagt Kühne. Sie warnt: "Wenn es Fälle gibt, wird es schwer, das wieder einzudämmen." Die beste Vorsichtsmaßnahme wäre daher, die Lager aufzulösen und die Menschen in die lokalen Gemeinschaften zu integrieren.
evangelisch.de dankt welt-sichten für die Kooperation. Dort wurde der Artikel am 30. März 2020 veröffentlicht.