Als die ersten Coronavirus-Einschränkungen kamen, dachte Kantorin Susanne Rohn im hessischen Bad Homburg noch, es würde bald wieder vorbei sein. Als ihre Chöre nicht mehr gemeinsam singen konnten, organisierte sie im Internet Chorproben für die kommenden Auftritte.
Die Johannespassion war geplant, Musik zum Hölderlin-Jubiläum und zum 75. Jahrestag des Kriegsendes. "Dann kam eine Phase, wo alles abgesagt wurde, und dann kam noch heraus, dass Singen überhaupt das Gefährlichste sei", erzählt die Kirchenmusikerin. Seither zerbricht sie sich den Kopf darüber, wie Kirchenmusik in der Corona-Krise weiter erklingen kann.
Die Frage hat noch einmal an Brisanz gewonnen, seit nach der langen Zwangspause wieder öffentliche Gottesdienste erlaubt wurden. Denn die behördlichen Auflagen haben es in sich: Neben der Pflicht zu Einlasskontrollen und Mindestabständen soll auch Gemeinde- und Chorgesang unterbleiben, auch die Posaunenchöre müssen schweigen. Zu groß ist die Angst vor Situationen wie im Berliner Domchor, wo sich im März Dutzende Sänger bei einer Probe mit dem Virus infiziert hatten. "In dieser Zeit der Corona-Pandemie ist Gesanges-Fasten angesagt", heißt es in einem Papier der hessen-nassauischen Landeskirche. "Heute singen die Engel im Himmel für uns."
"Ein Gottesdienst ohne Musik ist kein Gottesdienst", bringt der pfälzische Landeskirchenmusikdirektor Jochen Steuerwald das Problem auf den Punkt. Noch dazu öffneten sich die Kirchentüren vielerorts erstmals ausgerechnet am 10. Mai, dem Sonntag "Kantate", an dem sich laut Kirchenkalender alles um Gesang und Musik drehen soll. Rhythmisches Klatschen und Fingerschnipsen, wie vereinzelt vorgeschlagen, wirkt da nicht als ernsthafter Ersatz. Es ist Glück im Unglück, dass die Kirchen in der Regel ein Instrument besitzen, das mühelos ein halbes Orchester ersetzen kann. "Wir haben den Schatz unserer Orgeln", sagt Steuerwald.
Ein Thema wird eine Italienreise
Carsten Wiebusch, Professor für Orgelmusik und Organist in Karlsruhe, plant bereits spezielle Orgelgottesdienste für die Christuskirche, an der er tätig ist. "Ein Thema wird eine Italienreise", berichtet er. Wenn die Gemeindemitglieder schon nicht ins Ausland reisen können, sollen sie sich zu Werken von Vivaldi und Orgelbearbeitungen von Franz Liszts italienischen Wanderjahren zumindest musikalisch dorthin träumen. Einige Gemeinden setzen auch auf Einzelsänger und kleinere Instrumentalensemble. Mancherorts spielen Bläser der Posaunenchöre von den Kirchtürmen.
Gerade kleinere Kirchen stoßen aber schnell an ihre Grenzen. Maximal 25 Personen dürften wegen Corona noch in die Kirche, rechnet Pfarrer Sascha Heiligenthal vor. "Dabei habe ich allein 30 Konfirmanden. Und jeder Musiker und Lektor stiehlt ein bis zwei Leuten den Platz." Die Konsequenz für seine musikalisch äußerst aktive Mainzer Philippus-Gemeinde sei unvermeidbar: Bei Live-Gottesdiensten in der Kirche werde Musik drastisch eingeschränkt. "Wir sollten nicht so tun, als sei es wie immer", sagt Heiligenthal. Daher ärgere er sich auch über die Fernsehgottesdienste, in denen die Sänger "dicht an dicht stehen". Die Kirche sei da kein gutes Vorbild.
Mischung aus Online- und Live-Kirchenmusik
In Mainz haben sich die Band "The Lutherans" und die anderen Gruppen aus Heiligenthals Gemeinde ins Internet vorgewagt und erstellen dort Musikvideos für Online-Gottesdienste. Mit "Hausmitteln" könne jede Stadtteilgemeinde ordentliche Kirchenmusik zu Hause produzieren, ist der Pfarrer sicher.
Auch Susanne Rohn in Bad Homburg setzt auf eine Mischung aus Online- und Live-Kirchenmusik. In ihrem Youtube-Kanal hat sie eine Video-Serie gestartet, in der sie vom Spieltisch in der Erlöserkirche aus täglich ein wenig über Orgelmusik erzählt und etwas vorspielt. "Das ist wie ein Volkshochschulkurs über das Musikhören", sagt die Kantorin. Im Gottesdienst singt sie vorerst allein und begleitet sich selbst an der Orgel.
In zwei Punkten sind sich alle Verantwortlichen einig: Musik vom Band oder gar Gesang "aus der Konserve" soll es in den Kirchen nicht geben. Und alles, was jetzt passiert, ist nur eine Notlösung. Möglicherweise gelten die strengen Regeln auch nur vorübergehend. Zumindest kommt eine aktuelle Untersuchung der Münchner Universität der Bundeswehr zu dem Ergebnis, dass eine Ausbreitung des Virus beim Singen über eine Entfernung von einem halben Meter hinaus "äußerst unwahrscheinlich" sei.