Angstforscher zu Lockerungen: Die Menschen bleiben diszipliniert
09.05.2020
epd
epd-Gespräch: Martina Schwager

Göttingen (epd). Der Göttinger Angstforscher Borwin Bandelow sieht nach den weitreichenden Lockerungen in der Corona-Krise kaum die Gefahr, dass die Menschen leichtsinnig werden und in großer Zahl wieder in die Geschäfte und Restaurants strömen. "Es wird weiterhin sehr gesittet und diszipliniert zugehen", sagte Bandelow dem Evangelischen Pressedienst (epd). Hinzu komme, dass die weiterhin geltenden Auflagen den Genussfaktor in Grenzen hielten. "Wenn ich in ein Restaurant gehe und der Kellner bedient mich mit Mundschutz und Handschuhen, dann bleibt bei mir das mulmige Gefühl, dass der Koch vielleicht doch Corona hat. Das stelle ich mir ziemlich spaßfrei vor."

Bandelow prophezeite, die neu gewonnene Freiheit werde viele Menschen eher verunsichern und vielleicht sogar wieder in größere Angst versetzen. Manch einer habe es genossen, "von einer Übermutti oder einem Übervati behütet" zu werden. "Die Menschen wollen eine klare Aussage wie 'Alle bleiben zu Hause' oder 'Alles ist geschlossen'", sagte der Psychiater und Psychotherapeut. "Jetzt gibt die Politik die Verantwortung wieder an die Bürger zurück und jeder muss wieder auf sich selbst aufpassen." Die meisten würden deshalb lieber weiterhin Vorsicht walten lassen.

Die neue Angst werde aber nicht erneut in Panik umschlagen wie zu Beginn der Pandemie, als sie zu unvernünftigen Verhaltensweisen wie dem Hamstern von Toilettenpapier geführt habe, sagte Bandelow. Nach etwa vier Wochen mache sich in jeder Krise eine realistische Risikoeinschätzung in der Bevölkerung breit. Aktuell könne man von 22.000 bestätigten Corona-Infizierten ausgehen, und wenn die errechnete Dunkelziffer stimme, wären das nicht mehr als 220.000 Menschen, die ansteckend sind. "Da ist die Gefahr doch relativ gering, dass ich mich mit Corona infiziere, wenn ich auf der Straße in einen anderen Menschen hineinlaufe."

Die von vielen befürchtete Zunahme von Depressionen, Angststörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen durch die Abstandsgebote in der Corona-Krise sei nicht eingetroffen, betonte der Ehrenvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Angstforschung. "Die große Vereinsamung kam nicht auf." Die Menschen hätten im Gegenteil sogar mehr Zeit für Gespräche und gemeinsame Spaziergänge gefunden - wenn auch mit zwei Metern Abstand. Selbst in Altenheimen hätten die Angehörigen es trotz Besuchsverboten geschafft, zur Oma Kontakt zu halten - am Gartenzaun, per Telefon oder Tablet.