"Ich bin Herbergsvater, Streetworker und Pastor", sagt Jonny Löchelt, Leiter der "SimeonsHerberge" im ostwestfälischen Minden. Seit 2019 sorgt er für Betrieb in dem 120 Jahre alten ehemaligen Pfarrhaus neben der mittelalterlichen St. Simeoniskirche. Das rote Backsteingebäude ist Ort für Übernachtungen, Stadtteil-Treff und Experimentierfeld für neue Formen von Kirche. In Corona-Zeiten müssen auch hier neue Wege beschritten werden. Das wöchentliche Stadtteilgebet gestaltete Löchelt als Videokonferenz
Die "SimeonsHerberge" ist eine von über 120 Initiativen im bundesweiten Netzwerk "Fresh X". Die Idee der "Fresh Expressions of Church" (deutsch: "neue Ausdrucksformen von Gemeinde") stammt aus England. Die Bandbreite der Projekte reicht von Stadtteilarbeit in Neubauvierteln wie in Stade über familienfreundliche Cafés wie in Siegen bis zu einer Kletterhalle im württembergischen Metzingen.
"Den Initiativen geht es darum, Formen von Gemeinde vor allem für Menschen ohne näheren Bezug zur Kirche zu entwickeln", erläutert Katharina Haubold, Referentin an der CVJM-Hochschule in Kassel. Dabei wolle man den herkömmlichen Gemeinden keine Konkurrenz machen, sondern sie ergänzen.
"Viele von ihnen leisten in ihren Strukturen gute Arbeit", betont der Pädagoge Löchelt. Doch erwarteten sie häufig, dass die kirchenfernen Menschen von selbst zu den Angeboten kommen. Bei "Fresh X" gehe es darum, erst Beziehungen aufzubauen, Bedürfnisse zu erkennen und dann die Arbeit gemeinsam mit den Leuten zu gestalten.
Fixpunkt im Leben der "SimeonsHerberge" ist in normalen Zeiten der "FeierAbend" jeden Mittwoch. Bis zu 20 Gäste kann Löchelt dann begrüßen. Alle bringen etwas fürs gemeinsame Essen mit: Brot, Wurst, Käse, Frikadellen. In der Küche wird Salat geschnippelt und eine Suppe warm gemacht. Das kulinarische Angebot ist so bunt wie die Tischgemeinschaft: Ein Geschwisterpaar aus Syrien kommt regelmäßig, ein älterer Fotograf aus der Nachbarschaft, das junge Arzt-Ehepaar, der evangelische Jugendleiter mit seiner Frau.
Zu Beginn seines Dienstes nahm Löchelt sich Zeit, Kontakte zu knüpfen. Bei Spaziergängen, auf Spielplätzen, in Cafés und Kneipen lernte der 36-jährige Sport- und Religionslehrer Menschen im Viertel kennen. Über den Kindergarten ihrer kleinen Söhne fanden er und seine Frau Kerstin Kontakt zu anderen Eltern - daraus entstand das Familiencafé "Herberge Kunterbunt" alle 14 Tage, mit Spielmöglichkeiten für die Kleinen und Plaudereien sowie einer "Inspiration für den Alltag" für die Großen.
Auch Kochabende für Frauen oder Wohnzimmerkonzerte finden in der "SimeonsHerberge" statt. Mit dem Übernachtungsbetrieb für Pilger, Jugendgruppen oder Rad-Touristen finanziert der Treffpunkt die laufenden Kosten. Als Herbergsvater kümmert sich Löchelt um Buchungen, verwaltet den Kalender, schreibt Rechnungen und weist Gruppen ein. 18 einfache Betten stehen für einen moderaten Preis zur Verfügung. Die Wochenenden sind meist ausgebucht - im Gästebuch haben sich unter anderem Gruppen aus St. Tönis, Oldenburg und Gütersloh verewigt.
In dem Stadtteil leben gut situierte Bürger ebenso wie Hartz IV-Empfänger. In seelsorgerlichen Gesprächen erfährt Löchelt auch von sozialen Notlagen und bringt Menschen mit Stellen in Kontakt, die weiterhelfen können. Während der Corona-Krise organisiert die "SimeonsHerberge" zusammen mit Wohlfahrtsverbänden eine Nachbarschaftshilfe für Menschen aus Risikogruppen.
Missional, kontextuell, lebensverändernd, gemeindebildend: Diese Schlagworte kennzeichnen laut dem bundesweiten Netzwerk eine Fresh X-Initiative. Mit "missional" seien nicht etwa evangelistische Aktionen gemeint, erläutert Andreas Isenburg vom westfälischen Institut für Gemeindeentwicklung und missionarische Dienste: "Es geht dabei auch um die Frage: Wie kann man Menschen unaufdringlich ermutigen, einen eigenen Zugang zum christlichen Glauben zu entdecken?"
Wenn er von seiner Arbeit in der Herberge erzähle, sei man schnell beim Thema Glaube, berichtet Löchelt. Mittwochs nach dem "FeierAbend" geht er normalerweise mit einigen Gästen rüber in die Simeoniskirche zum "Stadtteilgebet". Seit Mitte März war alles anders - Gebet per Videokonferenz. Sieben Menschen haben sich zugeschaltet. "Schade, dass wir viele Menschen nicht sehen können, die wir liebhaben. Wir bitten, dass das bald wieder möglich ist", betet die virtuelle Runde.
Ob sich im alten Pfarrhaus so etwas wie eine eigene Gemeinde bildet, lässt Löchelt offen: "Wir wollen in der Richtung mehr wagen." Damit das möglich wird, wirbt der Trägerkreis um Patenschaften für die Herberge - die Anschubfinanzierung der Stelle des Ehepaars Löchelt durch den Hamburger Verein "Andere Zeiten" läuft Mitte 2020 aus.