Mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter kommuniziert Anneliese Pollmann seit sechs Wochen nur noch durch Zuruf oder per Telefon. Dann stehen ihre erwachsenen Kinder draußen vor der Tür des Senioren- und Pflegeheims Kastanienhof bei Osnabrück und winken. Oder sie melden sich "bei Mutter" mit einem Anruf. Diese Telefonate genießt die 92-Jährige sehr. Trotzdem wünscht sie sich, "dass man mal wieder richtig miteinander sprechen und sich sehen kann". Das Ausmaß der Corona-Krise begreift sie kaum. "Wer hat uns das alles bloß eingebrockt?", fragt sie ratlos. Und: "Wann ist das Ganze bloß zu Ende?"
Bei ihren Beratungen Mitte April hatten Bund und Länder festgehalten, dass vulnerable Gruppen wie Pflegebedürftige besonders geschützt werden, gleichzeitig aber auch vor Vereinsamung geschützt werden sollen. Die Verantwortung dafür liegt demnach bei den Einrichtungen selbst und den Ländern. Das Bundesgesundheitsministerium erklärte, es werde keine zentralen Leitlinien entwickeln. Das Ministerium verweist aber auf die vom Robert Koch-Institut veröffentlichten Empfehlungen, die die Länder für Pflegeeinrichtungen umsetzen könnten.
Zunehmend Protest gegen Besuchs- und Ausgehverbote
Gegen die Besuchs- und Ausgehverbote gibt es zunehmend Protest: Politiker und Verbände warnen dringlich, dass die Isolation alter Menschen gesundheitliche Folgen hat und auch Leben gefährdet: Demenzkranke bauen geistig noch stärker ab, Depressionen und Ängste nehmen zu. "Viele Menschen in den Pflegeeinrichtungen leiden massiv unter der erzwungenen Einsamkeit", beklagt der SPD-Politiker und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen, Franz Müntefering.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft für alte und pflegebedürftige Menschen (Biva) hat eine Petition gestartet, damit Besuche von Betreuern und Angehörigen "unter Einhaltung von verbindlichen Hygienevorschriften" ermöglicht werden. Dabei weist die Biva auch daraufhin, dass Angehörige nicht nur Besucher sind, sondern oft auch Pflege unterstützen und eine wichtige Kontrollfunktion haben. Denn die Betreuung in den Heimen kann durchaus mangelhaft sein. Wenn etwa das Personal nicht gewissenhaft darauf achtet, dass die Hochbetagten genug trinken, können die Bewohner dehydrieren und in Lebensgefahr geraten.
"Schutz gewährleisten - Isolation durchbrechen"
Birgitte Bührlen, Vorsitzende der "Wir!Stiftung pflegender Angehöriger", fordert die Heimträger auf, sich Gedanken zu machen, wie die Häuser gestaltet werden können, damit der Schutz erhalten bleibt und Besuche möglich sind. "Im Eingang kann man erfassen, war wann kommt und zu wem geht", schlägt sie vor. Dazu könnte die Temperatur der Besucher gemessen werden. Abstand halten und der Mund-Nasen-Schutz gehörten in der Corona-Krise ohnehin dazu.
Bei großen Trägern von Alten- und Pflegeheimen werden solche Überlegungen mit Vorsicht angestellt. Denn die Gefahr ist groß: Mehr als 800.000 Menschen leben bundesweit in mehr als 14.000 Heimen. Das Robert Koch-Institut teilte kürzlich mit, dass rund ein Drittel der Todesopfer aus Pflegeeinrichtungen stammt. Rund 87 Prozent der Menschen, die an Covid-19 sterben, sind älter als 70. Nach Ansicht von Andreas Wedeking, Geschäftsführer des Verbandes katholischer Altenhilfe in Deutschland sind Lockerungen erst möglich, wenn es genügend Schutzmaterialien gibt. Die Caritas fordert außerdem mehr Tests für Pflegefachkräfte und Pflegebedürftige. Das hat die Bundesregierung jetzt zugesagt.
"Diese 80- und 90-Jährigen haben unser Land aufgebaut"
"Wir müssen den notwendigen Gesundheitsschutz gewährleisten, aber gleichzeitig die Isolation der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner unterbrechen", betont die Diakonie-Pressesprecherin Kathrin Klinkusch. Die Diakonie arbeite daher an Schutzkonzepten, die kurze Besuche von Angehörigen ermöglichen sollen - etwa indem die Heime geschützte Bereiche schaffen.
Einige Länder wie Sachsen-Anhalt, Hessen und Niedersachsen haben Lockerungen erlassen oder angekündigt. Angela Merkel hatte in einer Rede kürzlich betont, dass ihr die Lage der Hochbetagten nahe geht: "Diese 80- und 90-Jährigen haben unser Land aufgebaut", sagte die Bundeskanzlerin.