Sowohl innerhalb als auch außerhalb der evangelischen Kirche wird hin und wieder behauptet, die Evangelische Kirche sei eigentlich zu Allem bereit und maßlos anpassungsfähig. Hören Sie solche Aussagen oft?
Thomas Zeitler: Wir sind tatsächlich eine Gemeinde hier in Nürnberg, die gerne Grenzen überschreitet und Neues ausprobiert. Das irritiert manche, weil es mit dem gewohnten Bild von Kirche nicht zusammenpasst. Aber vor allem hören wir Lob, dass wir mutig versuchen, Neuland zu erschließen. Kulturell und spirituell.
Und wie wird heute im "lutherischen" Nürnberg die Kirche wahrgenommen?
Zeitler: Nürnberg steht natürlich stark für die Tradition seiner beiden mittelalterlichen Kirchen St. Lorenz und St. Sebald, aber auch für eine sozial engagierte Kirche in einer industriell geprägten Großstadt. Davon unterscheiden wir uns deutlich, weil wir versuchen, in Kontakt zur Gegenwartskultur zu gehen und zu kulturellen Milieus, die sonst nicht so in der Kirche beheimatet sind. Also sind wir schon die "Exoten". Aber das sind wir gerne.
Wie ist das Kirchenbild beim Durchschnittsbürger jetzt abgesehen von Ihrer besonderen Kulturgemeinde?
Zeitler: Nürnberg war lange eine Hochburg der Arbeiterbewegung. Deshalb gibt es bis heute ein gewisses ererbtes Verdachtsmoment, dass die Kirche eher konservativ und mit den Herrschenden im Schulterschluss ist. Aber das trifft nicht die Wirklichkeit. Das Gemeindeleben ist bunt und geht quer durch alle Schichten. Natürlich stellen wir uns darauf ein, dass wir nicht mehr die hegemoniale religiöse Macht sind wie vor 100 Jahren. Es sind etwa noch 1/3 der Nürnberger lutherisch.
Aus der Alten Kirche kennt man wohl das Osterlachen oder den österlichen Tanz. Zu Ostern haben Sie den Nürnbergern*innen etwas Umstrittenes und zugleich Innovatives vorgeschlagen: eine Party in der einzigen barocken lutherischen Kirche in Nürnberg. Wie sind Sie darauf gekommen oder war es eben doch keine Party?
Zeitler: Es war keine Party in der Kirche. Das würden die Sicherheitsbestimmungen in Corona-Zeiten auch gar nicht erlauben. Wir haben drei Stunden lang mit DJs aus stadtbekannten Clubs elektronische Musik im Livestream in die Wohnstuben gesendet. Und Menschen dazu eingeladen, zu Hause Ostern mit dieser Musik und tanzend entgegen zu feiern. Allerdings tanzen wir sonst tatsächlich regelmäßig in der Kirche. Es wäre für uns also nicht unvorstellbar, auch einen Rave in der Kirche durchzuführen.
DJs als quasi neue Botschafter des Herrn im säkularen Millieu?
Zeitler: Wir verstehen uns ja als Kulturkirche. Bei diesem Konzept sind wir beides: Veranstaltungsort für Kultur, wie Musik und Tanz. Und Kirche mit dem Anliegen, das, was wir im Glauben feiern und leben, in neuen Gewändern zugänglich zu machen. Wir hoffen, dass diese Osternacht das geleistet hat.
Welcher theologisch-liturgische Grundgedanke stand hinter diesem speziellen Gottesdienst?
Zeitler: Von der spirituellen Dramaturgie war es eine klassische Osternacht: In der ersten Stunde wurde bewusst ruhige Musik aufgelegt, die den Charakter des Karsamstags als 'stillem Feiertag' - mit Tanzverbot in Deutschland! - aufnahm. Dann haben wir die Osterkerze entzündet, einen Ostertext gelesen und das Licht zu den Kerzen am DJ-Pult gebracht. Und dann durfte die Auferstehung mit allen Sinnen und aller Freude ganz körperlich ausgedrückt werden: im Tanz.
Es gab also einen geplanten Ablauf wie bei einem klassischen Gottesdienst, nur nicht mit einem Pfarrer oder einer Pfarrerin, sondern eben mit DJs?
Zeitler: Nun, ich habe als Pfarrer schon selbst den Rahmen definiert: begrüßt und die Lichtfeier geleitet. Aber die DJs hatten tatsächlich eine Art priesterliche Rolle an ihrem Pult, das direkt vor dem Altar stand. Denn sie bringen ja die Lebensfreude über die Musik zu den Zuhörer*innen. Wenn man so will, ist das auch ein sakramentales Geschehen.
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Ich nehme an, die DJs selbst seien nicht zwingend Lutheraner oder gar Christen gewesen. Wie haben sie das ganze Geschehen wahrgenommen und beurteilt?
Zeitler: Sie waren erst einmal ganz berührt, dass sie in dieser Weise bei uns willkommen geheißen wurden und ihre Kunst gewürdigt wurde. Ich hatte den Eindruck, dass sie eher scheu auf den sakralen Raum reagiert haben und sich sehr abgesichert haben, dass das, was sie auflegen, keine religiösen Gefühle verletzt oder Grenzen überschreitet, die uns wichtig sind. Es hatte für sie schon auch etwas "Heiliges", anders als in einem normalen Technoclub.
Und welche Rückmeldungen bekamen Sie von Ihrer Gemeinde, kirchenfernen Menschen oder auch der Kirchenleitung?
Zeitler: Die Resonanz aus der Clubbing-Szene war überwältigend. Auch da gibt es ja Christinnen und Christen, die gestaunt haben, dass so etwas möglich ist. Von Madrid bis Bukarest. Unser Regionalbischof und der Stadtdekan haben sich selbst eingeklinkt (und angeblich ein wenig mitgetanzt...). Viele Kolleg*innen haben später nachgefragt, wie wir das umgesetzt haben. Aber im Vorfeld gab es auch Bedenken, auch aus dem Kirchenvorstand und von Kolleg*innen, ob das eine angemessene und würdige Form der Feier sein kann. Ich hoffe, wir haben sie im Nachhinein überzeugen können.
Was haben Sie sich eigentlich von diesem Gottesdienst erhofft? Etwa mehr Menschen in den Kirchenbänken?
Zeitler: Nein. Es gibt zwei Dimensionen, die da im Spiel waren: Zum einen wollten wir im Lockdown der Coronazeit ein Zeichen der Solidarität mit den Clubs in Nürnberg senden. Es sind ja alle Partys abgesagt, die Einnahmen fallen weg und es wird auf lange Strecke existenzbedrohend. Wir wollen damit ein Zeichen setzen, dass uns die Clubkultur und die elektronische Musik wichtig sind und hoffen auch auf Spenden für die Künstler*innen. Zum anderen arbeiten wir grundsätzlich daran, eine Spiritualität für ein besonderes und in der Kirche oft nicht berücksichtigtes Kulturmilieu zu entwickeln. Die Sinus-Studien nennen sie die "Experimentalisten". Also Menschen, denen die eigene Erfahrung wichtig ist, das Ausprobieren, der eigene Körper, die Intuition und die Kreativität. Spirituelles Tanzen ist da sehr passförmig. Und so stellt das Tanzen neben der Konzert- und Ausstellungsarbeit schon lange einen Schwerpunkt bei uns dar.
Zurückgreifend auf die erste Frage - wie gehen Sie als Theologe und Seelsorger mit dem Vorwurf um, die Kirche wolle sich dem Zeitgeist anbiedern, koste es was es wolle, auch wenn es den Ausverkauf ihrer Substanz bedeutet - solche Signale hört man immer wieder.
Zeitler: Ich mag die negative, abwertende Verwendung des Begriffs Zeitgeist nicht. Das ist doch gerade das Schöne an der christlichen Trinität, dass sich der Geist immer neue Wege und Formen ausdenkt, Menschen zu erreichen, zu trösten, zu ermutigen, zu stärken, zu lehren. Er ist die lebendige Füllung des Rahmens, den der Schöpfer gesetzt hat. Und jeder "Zeitgeist" muss sich am Geist Jesu Christi messen und beurteilen lassen. Er ist auch bei uns Maß und Richtschnur. Aber vieles in der Gegenwartskultur ist gut verknüpfbar mit dem Geist der Befreiung und der Liebe, wie ihn Jesus uns vorgelebt hat. Und übrigens hat er ja auch getanzt, ohne dass wir das jetzt als Legitimation herbeiziehen müssten.
Und die Anbiederungsvorwürfe?
Zeitler: Anbiedern hieße ja: die eigenen Überzeugungen verraten, um jemandem "auf Teufel komm raus" zu gefallen. Und einen kalt kalkulierten Gewinn daraus zu ziehen. Ich spreche in unserem Fall lieber von "Inkulturation". Wir versuchen, so wie Paulus, einem bestimmten Kulturmilieu in ihrer Sprache, auch musikalischen Sprache, etwas vom Evangelium mitzugeben. Und das eben weniger in der klassisch evangelischen Wortverkündigung, sondern im Medium der Kunst und Kultur. Und ich denke, dass Luthers Gespür für die Musik und die Malerei als Trägerin der Botschaft uns da die Tore weit geöffnet hat, anders als bei den asketischen Reformierten calvinistischer Prägung.
Gibt es vielleicht neue pastorale Initiativen für St. Egidien? Vielleicht mit dem Tanz gen Himmel beim Hochfest der Himmelfahrt?
Zeitler: Naja, der Einsatz von Drohnenflug-Passagen hatte ja schon was Schwebendes gen Himmel. Ich freue mich tatsächlich darauf, wenn wir ohne Sicherheitsabstand wieder miteinander Singen, Tanzen, Hören, Beten und Schweigen können. Das muss ja nicht immer nach Agende und mit Musik von Bach sein. Aber die Gemeinschaft im "neuen Sein" (Paul Tillich) will eben real und sinnlich gefeiert werden. Da fallen uns bestimmt noch einige neue Formen ein...
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