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TV-Tipp: "Die Toten am Meer" (ARD)
25.4., ARD, 20.15 Uhr
Der sogenannte Copykiller ist ein Serienmörder, der Serienmorde kopiert, und zwar derart detailgetreu, dass die Ermittler vor einem Rätsel stehen: weil der ursprüngliche Täter entweder längst tot ist oder im Gefängnis sitzt. An diesem Muster orientiert sich auch "Die Toten am Meer".

Als eines Morgens eine Frau erdrosselt am Strand gefunden wird, genügt dem Husumer Kripochef Bergmann (Max Herbrechter) ein Blick, um die Handschrift des Mörders zu erkennen: Unterm linken Schlüsselbein der Leiche findet sich eine unmittelbar vor dem gewaltsamen Tod vorgenommene Tätowierung. Diese Signatur trugen auch die Leichen, die vor zehn Jahren den Weg von Eberhard Wernicke (Martin Wuttke) säumten; aber der Mann befindet sich seit Jahren in einer geschlossenen Anstalt. Bergmann überträgt den Fall der ehrgeizigen jungen Kollegin Ria Larsen (Karoline Schuch), die alsbald überzeugt ist, dass Wernicke aus der Psychiatrie heraus die Fäden zieht.

Für Krimiautoren sind Geschichten über Serienmörder eine besondere Herausforderung. Meist läuft die Handlung auf eine Art Wettbewerb hinaus: Der Täter hält sich für überlegen und treibt sein Spiel mit den Ermittlern. Die (Dreh-)Bücher sollten sich also ebenfalls durch eine gewisse Brillanz auszeichnen. Für das Copykill-Subgenre gilt das natürlich erst recht, zumal gleich mehrere Psychogramme erstellt werden müssen, denn meist sind auch die Ermittler eher schwierige Typen: Ria ist eine Frau ohne Sozialkontakte, die nur für ihren Beruf lebt. Dass sie in Stresssituationen Schokoriegel in sich reinstopft, die sie anschließend auf dem Klo wieder von sich gibt, hätte vielleicht nicht sein müssen, bietet dem intriganten Kollegen Mattern (Ronald Kukulies) aber eine gute Angriffsfläche: Er sieht überhaupt nicht ein, dass ausgerechnet die junge Kommissarin die Ermittlungen leiten darf, weshalb er so lange nach Kräften boykottiert und sabotiert, bis ihr der Fall tatsächlich entzogen wird. Das miese Verhalten hat zur Folge, dass zeitweise nicht etwa Wernicke, sondern Mattern zum Schurken des Films wird, zumal Martin Wuttke ohnehin nur eine Gastrolle spielt.

"Die Toten am Meer" ist das erste verfilmte Drehbuch der Produzentin Heike Voßler (Idee: Holger Joos). Spätestens seit "Sieben" (1995) von David Fincher arbeiten Serienmörder gern mit bestimmten Bezugspunkten, die sich den Ermittlern erst offenbaren, als sie erkennen, dass es sich um eine Mordserie handelt. Voßlers Täter nutzt ausnahmsweise mal nicht die Bibel, sondern ein Gedicht von Hermann Hesse. Alle Opfer haben kurz vor ihrem Tod eine Karte mit einer Strophe aus Hesses "Pilger" bekommen. Als das Gedicht schließlich komplett ist, stellt Ria fest, dass die erste Strophe fehlt. Wenn sie herausfindet, was die Opfer miteinander verbindet, kann sie diese Person vielleicht noch retten.

In dem Hesse-Gedicht heißt es unter anderem "Abschied nimmt die bunte Welt", und von dieser Zeile hat sich offenbar auch Regisseur Johannes Grieser inspirieren lassen: Viele Aufnahmen sind betont kühl und unbunt, sodass rote Farbtupfer – die Lippen des ersten Opfers, die Stühle beim Gespräch mit Wernicke – umso deutlicher hervorstechen. Eindrucksvoller sind jedoch die Luftaufnahmen der Dünen- und Wattlandschaft (Kamera: Wolf Siegelmann). Gerade der Auftakt ist eine geschickte Montage-Sequenz von Strand- und Körperbildern, die regelrecht miteinander verschmelzen, zumal die Richtung Meer mäandernden Rinnsale perfekt mit dem tätowierten Schlangenbild korrespondieren (Schnitt: Esther Weinert). Dass die Anmutung des Films fast interessanter als der Inhalt ist, hat nicht zuletzt mit Martin Wuttke zu tun, der die Hauptdarstellerin klar in den Schatten stellt. Wernicke bezeichnet sich selbst als einen "Künstler der Manipulation". Bei der ersten Begegnung mit der Kommissarin ist er überwiegend umgänglich, aber ein charismatischer Schauspieler wie Wuttke lässt mühelos das Monster durchscheinen, das sich hinter der freundlichen Fassade verbirgt. Der Film verzichtet jedoch auf eine Konstellation à la "Schweigen der Lämmer", denn die eigentliche Adressatin von Wernickes ganzem Streben ist nicht Ria, sondern eine Kollegin im Ruhestand: Elisabeth Haller (Charlotte Schwab) hat den Mörder damals mit ähnlicher Hingabe gejagt wie nun die jüngere Kollegin, in der sie sich prompt wiedererkennt.  

Grieser, dank vieler Beiträge für Reihen wie "Helen Dorn", "Ein starkes Team" oder "Tatort" eigentlich sehr krimiversiert, hat die Handlung längst nicht so spannend umgesetzt, wie das angesichts des Thrillerpotenzials sicher möglich gewesen wäre; Sat.1 hat letztes Jahr im Rahmen der "Julia Durant"-Reihe einen ähnlichen konzipierten Film gezeigt ("Mörderische Tage"), der deutlich packender war. Daher bleibt Muße genug, um die Detailarbeit des Drehbuchs zu würdigen. Haller ist im Grunde die tragische Figur der Geschichte, zumal Charlotte Schwab die Alkoholikerin sehr uneitel als verkrachte Existenz verkörpert. Andererseits hört die Frau Lieder von Richard Strauss und liest Alfred Andersch ("Sansibar oder der letzte Grund"). Ihr Lieblingsschriftsteller ist jedoch Hermann Hesse, dessen Werk einen weiteren Schlüssel zur Lösung liefert. Hesse hat vor hundert Jahren die Novelle "Klein und Wagner" geschrieben. Die zweite Titelfigur ist der Massenmörder Ernst Wagner, der 1913 14 Menschen getötet hat. Klein, der eigentliche Protagonist der Erzählung, fühlt sich auf seltsame Weise mit dem Mörder verknüpft. Wernicke hatte zuletzt mehrfach Besuch - von einem angeblichen Journalisten namens Ernst Wagner.