Derzeit wird diskutiert, wie lange die Kontaktsperre und die Einschränkung und Aussetzung von Grundrechten wie Versammlungsfreiheit und Religionsausübung noch dauern dürfen. Was ist Ihre Haltung?
Manfred Rekowski: Die Einschränkungen sind die Reaktion auf eine Notstandssituation und kein Akt staatlicher Willkür, deshalb müssen wir sie akzeptieren. Als Christen haben wir den Auftrag, "der Stadt Bestes zu suchen", wie es in der Bibel heißt. Das gilt auch jetzt. Es bedeutet, alles zu tun, was eine weitere Ausbreitung des Corona-Virus verhindert. Wie viele andere auch bin ich seit zwei Wochen im Homeoffice. Dennoch drängt sich die Frage auf, wann wir uns wieder einer Normalsituation nähern - auch im kirchlichen Bereich. Ich vertraue darauf, dass die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in den nächsten Wochen verantwortliche Entscheidungen treffen werden.
Häufig ist von einem Konflikt zwischen Leben und Gesundheit auf der einen und wirtschaftlichen Interessen auf der anderen Seite die Rede. Stimmt diese Formel oder ist der ethische Konflikt vielschichtiger?
Rekowski: Es geht um sehr komplexe ethische Fragen. Grundsätzlich gilt die Würde jedes Menschen ohne Wenn und Aber. Es ist aber nicht immer einfach zu sagen, wer die Schwachen sind, die geschützt werden müssen. Dazu gehören selbstverständlich die Risikogruppen - Menschen, die alt sind oder einschlägige Vorerkrankungen haben. Aber es gibt auch eine Verantwortung für Menschen, die aufgrund der Einschränkungen und der damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen ihre Existenz zu verlieren drohen. Oder für Kinder, die in prekären Verhältnissen leben und denen als Folge der Kontaktsperre häusliche Gewalt droht. Hier helfen keine einfachen und auch keine pauschalen Antworten. Die ethischen Debatten darüber müssen intensiv geführt werden.
Was bedeuten die Maßnahmen für Arme und Obdachlose?
Rekowski: Ärmere Leute drohen auf der Strecke zu bleiben, weil sie einen schlechteren Zugang zu Hilfsangeboten haben - vielfach ist bereits die Hürde eines Formulars zu hoch. Obdachlose haben es besonders schwer und sind äußerst gefährdet. In Düsseldorf haben wir deshalb angeboten, ein kirchliches Gebäude für die Unterbringung von Obdachlosen zur Verfügung zu stellen, das wird derzeit von der Stadt geprüft.
Wie verändert sich das Glaubensleben durch die staatlichen Maßnahmen?
Rekowski: Wir arbeiten völlig anders als gewohnt. Ich bin überwältigt vom Ideenreichtum, mit dem die Kirchengemeinden unter erschwerten Bedingungen Alternativen zum Normalfall kirchlicher Arbeit entwickeln. Gottesdienste werden gestreamt und Andachten per Rundmail verschickt, an Menschen ohne Internet auch Briefe geschrieben und Gespräche am Telefon geführt. Auch in kirchlichen Gremien gab es einen regelrechten Digitalisierungsschub, Videokonferenzen sind an der Tagesordnung.
Was bleibt nach der Krise von den Neuerungen übrig?
Rekowski: Wir lernen jetzt im Schnellkurs Lektionen für eine veränderungsbereite Kirche. Schon vor der Krise galt, dass wir unsere Form von Kirchesein und unsere Arbeitsweise anpassen müssen, weil sich Lebensverhältnisse wandeln und Menschen anders ticken. Was sich jetzt bewährt, wird in Serie gehen. Zum Beispiel eine Andacht oder Bibelstunde, die übers Internet plötzlich 200 Menschen erreicht statt vorher weniger.
"Die Absage von Gottesdiensten zu wichtigen Anlässen sind kolossal und einschneidend"
Wie wichtig ist denn künftig noch die reale Begegnung von Menschen?
Rekowski: Die reale Gemeinschaftserfahrung bleibt konstitutiv für den christlichen Glauben, der Menschen zusammenbringt. Die digitalen Möglichkeiten können zwar manches ermöglichen und kompensieren, aber viel Zwischenmenschliches bleibt dabei auf der Strecke.
Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen sind Menschen besonders wichtig - und aktuell stark eingeschränkt oder abgesagt.
Rekowski: Die Absage von Gottesdiensten zu wichtigen Anlässen sind kolossal und einschneidend, vor allem die Begrenzung auf den engsten Familien- und Freundeskreis bei Beerdigungen belastet viele Menschen. Eine würdige Trauerfeier ist sehr wichtig für den Abschied von einem geliebten Menschen, dessen Leben zurück in Gottes Hand gelegt wird. Freunde, Kollegen oder Vereinsmitglieder zeigen ihre Wertschätzung. Das ist aktuell nicht möglich. Wir raten deshalb Gemeinden, Trauergottesdienste nachzuholen, wenn die Coronakrise überwunden ist. Auch dass Paare ihre Trauung absagen oder ohne Gäste heiraten müssen, ist für die Betroffenen eine belastende Situation. Hier müssen wir als Kirche flexibel terminliche Alternativen anbieten, wenn sich die Situation geändert hat.
Auch finanziell dürfte die Krise die Kirche hart treffen. Gibt es dazu schon Erkenntnisse?
Rekowski: Wir sind von den Auswirkungen ebenso betroffen wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche und rechnen mit deutlichen Einbußen in diesem Jahr. Das Kurzarbeitergeld ist steuerfrei, damit entfällt auch die Kirchensteuer. In Nordrhein-Westfalen wird Unternehmen zudem die Möglichkeit eingeräumt, Steuerzahlungen aufzuschieben - auch das wirkt sich zwangsläufig negativ auf den Fluss der Kirchensteuermittel aus. Es gibt zwar noch keine seriösen Prognosen, aber wir rechnen EKD-weit derzeit mit einem Minus von 10 bis 15 Prozent. Auch wenn wir als Evangelische Kirche im Rheinland weiter liquide und handlungsfähig sind, trifft das alle Ebenen unserer Kirche.
Wie sieht es im diakonischen Bereich aus?
Rekowski: In der sozialen Arbeit gibt es an vielen Stellen massive Einbrüche. Beratungsstellen können praktisch ihre Arbeit nicht mehr wahrnehmen, Tagungshäuser müssen in Kurzarbeit gehen. Dennoch gibt es in Kirche und Diakonie keine Panik, sondern wir gehen nüchtern mit der Situation um.
"Wir müssen das Tempo für nötige Veränderungen in unserer Kirche wie Reduzierung der Aufgaben erhöhen"
Der erwartete Rückgang der Wirtschaftsleistung und höhere Arbeitslosigkeit könnten sich auch nach 2020 auswirken.
Rekowski: Im Blick auf die kommenden Jahre sind wir noch zurückhaltend. Wenn die Krise die Wirtschaft für einen längeren Zeitraum zum Stillstand bringt, werden wir das aber massiver spüren. Das heißt, dass wir das Tempo für nötige Veränderungen in unserer Kirche wie Reduzierung der Aufgaben erhöhen müssen.
Evangelikale Christen in den USA sehen im Corona-Virus eine Strafe Gottes. Wie bewerten Sie solche Äußerungen?
Rekowski: Das ist vollkommen abwegig und abstrus und mit biblischen Überlieferungen und Traditionen nicht zu begründen.
"Auch im Leid spüren wir die Nähe Gottes und wissen, dass wir getragen sind"
Viele Menschen leiden unter den Entwicklungen. Wo ist Gott in der Coronakrise?
Rekowski: Wir gehen auf Karfreitag zu - ein stiller Feiertag, dessen Bedeutung sich Teilen der Gesellschaft zuletzt weniger erschlossen hat. In diesem Jahr wird es zwangsläufig ein sehr stiller Karfreitag werden. Mir war dieser Feiertag immer sehr wichtig. Bei Beerdigungen haben mir als Pfarrer manchmal die Worte gefehlt, wenn ich die abgrundtiefe Traurigkeit von Menschen und die Bodenlosigkeit des Leids gesehen habe. Da war ich dankbar für das Wort des sterbenden Jesus: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Es ist Teil unseres christlichen Glaubens, dass die Frage nach dem Warum nicht nur unsere Frage ist, sondern auch die Frage des Gekreuzigten, die bei Gott gut aufgehoben ist. Auch im Leid spüren wir die Nähe Gottes und wissen, dass wir getragen sind.
Was ist in der besonderen Situation die Botschaft des Osterfestes?
Rekowski: Die Nachricht von Ostern hat es in diesem Jahr vielleicht besonders schwer, durchzudringen gegen das alles beherrschende Thema Corona. Ostern ist für mich ein Fest der Zuversicht. Das Thema lautet: Das Leben siegt, der Tod hat nicht das letzte Wort. Dass der Gekreuzigte nicht auf der Strecke geblieben ist, sondern Gott ihm ein neues Leben geschenkt hat, das nicht vergeht - aus dieser Zuversicht schöpfen wir Christinnen und Christen Mut und Hoffnung für unser eigenes Leben, aber auch für die Welt.
"Überall feiern Menschen jetzt in ihren Wohnungen und Häusern analog und digital die Auferstehung Jesu von den Toten"
Ostern kann in diesem Jahr nicht in großer Gemeinschaft gefeiert werden, sondern praktisch nur privat zuhause und allenfalls virtuell zusammen mit anderen. Wie gehen Sie damit um?
Rekowski: Wir feiern Ostern dezentral, an unterschiedlichen Orten: zuhause am Küchentisch, auf dem Sofa oder wo auch immer. Auch wenn zum Grundgefühl, das ich mit Ostern verbinde, eigentlich eine gut gefüllte Kirche gehört, in der alle miteinander kraftvoll das traditionelle Osterlied "Christ ist erstanden" singen. Jetzt haben wir eine Ausnahmesituation. In Nordrhein-Westfalen haben sich die evangelischen und katholischen Kirchen darauf verständigt, am Ostersonntag von 9.30 Uhr bis 9.45 Uhr die Glocken zu läuten. Dadurch wollen wir öffentlich deutlich machen: Überall in diesem Land feiern Menschen jetzt in ihren Wohnungen und Häusern analog und digital die Auferstehung Jesu von den Toten.
Wie feiern Sie persönlich Ostern?
Rekowski: Zuhause mit meiner Frau. An den letzten Sonntagen habe ich bereits Fernseh- und Radiogottesdienste mitgefeiert, die ich als intensiv und bereichernd erlebt habe. Das haben wir uns auch für Ostern vorgenommen. Seit man nicht mehr in die Kirche gehen darf, habe ich auch diverse andere sehr ansprechende Gottesdienste an verschiedenen Orten der rheinischen Kirche übers Internet verfolgt, zu denen ich Einladungen oder Hinweise bekam.