Das meiste von der Kirche ist geblieben, auch ein Geruch, der ein wenig wie in einer alten Bibliothek anmutet. Nur die Kirchenbänke sind üppigen Sitzen aus dunklem Samt gewichen. Und wo der Altar stand, hängt jetzt eine Leinwand. Die 117 Jahre alte ehemalige Kirche der Baptistengemeinde in Göttingen ist zum Kino geworden. Über dem Kinosaal mit Foyer und Bistro entstanden zudem auf zwei Etagen vier Mietwohnungen und ein Büro direkt unter dem Dach.
Hier wie überall in Deutschland geht die Zahl der Kirchenmitglieder zurück, Gemeinden werden zusammengelegt, einige Kirchen immer weniger genutzt: Manchmal bleibt nur die Entscheidung für eine Entwidmung, also die Aufgabe als sakraler Bau. Der Unterhalt der Gebäude ist auf Dauer teuer. "Die einzelnen Kirchengemeinden stehen dann vor der Frage, ob sie ihr Geld lieber in Menschen oder in Steine investieren", sagt die Stadtplanerin und Architektin Kerstin Gothe, Professorin am Karlsruher Institut für Technologie. Zusammen mit der Volkswagenstiftung hatte sie ein Symposium geplant, in dem Fachleute aus fünf europäischen Ländern über die Umnutzung von Kirchen diskutieren wollten. Es wurde wegen der Corona-Krise kurzfristig abgesagt.
Die Frage, was aus den profanierten Kirchen werden soll, sei komplex, erläutert Gothe. "Kirchen sind besondere Orte." Die Menschen in ihrer Umgebung hingen daran. Selbst diejenigen, die sich sonst nicht als religiös bezeichneten, stünden auf, wenn eine Kirche abgerissen werden sollte. "Kirchen sind für Schwellenrituale wie Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse als Orte wichtig." Auch nach Terroranschlägen fänden Menschen oft in Kirchen zusammen, um einander zu trösten.
Sollte eine Kirche nach der Entwidmung eine neue Funktion bekommen, müsse diese im Idealfall eine öffentliche Aufgabe erfüllen, fordert die Stadtplanerin: "Traditionell sind Kirchen öffentliche Räume." Im Mittelalter und der frühen Neuzeit versammelten sich Menschen darin oder trieben Handel. Die Einschränkung auf rein sakrale Nutzung hat sich Gothe zufolge erst in späteren Jahrhunderten etabliert.
Zudem ragten Kirchen aus baulicher Sicht heraus - im übertragenen wie buchstäblichen Sinne. Mit ihren Türmen und auf einem prominenten Platz im Ort sollten sie schon von weitem zu sehen sein. "Die Kirchentürme werden manchmal auch Zeigefinger Gottes genannt." Auch die Gebäude an sich seien wertvoll: "Oft haben sie die besten Architekten ihrer Zeit errichtet." Weit mehr als 80 Prozent aller Kirchen in Deutschland stehen unter Denkmalschutz. Sie einfach abzureißen, gehe allein schon deshalb nicht. "Aber sie stark zu verändern, kann auch problematisch sein."
In Göttingen stand die frühere Kirche der Baptistengemeinde fast 35 Jahre lang leer. "Vieles war mittlerweile völlig verrottet", sagt Telke Reeck. Sie ist Geschäftsführerin des kommunal geförderten Göttinger Kinos "Lumière", das auch das neue Kino in der Kirche betreibt. Die Sanierungskosten des Sandsteingebäudes aus dem Jahr 1903 waren für die Stadt als neue Eigentümerin schlicht zu hoch. Erst als sich ein Investor fand, der nach eigenen Angaben 1,8 Millionen Euro in die originalgetreue Renovierung investierte, konnte in der Kirche ein neues Leben beginnen.
Charakter erhalten
"Dabei wollten wir ihren Charakter unbedingt erhalten", betont Reeck. Im Kirchensaal wurde dafür das Tonnengewölbe aus Holz von Hand geschliffen, die Balustrade mit Samt bezogen, damit der Ton auch für ein Kino stimmt. "Wenn ein Gebäude sich nicht gut als Kino eignet, dann ist es eigentlich eine Kirche", sagt Reeck. "Aber wir haben es am Ende geschafft."
Einer Umfrage des Evangelischen Pressedienstes vom vergangenen Jahr zufolge ist die Zahl der verkauften und entwidmeten Kirchen im Rheinland und in Westfalen besonders hoch: In der Evangelischen Kirche im Rheinland wurden zwischen 2008 und 2018 insgesamt 150 Kirchen entwidmet. Seit 2001 wurden in der Evangelischen Kirche von Westfalen 78 Kirchen und 61 weitere Gottesdienststätten aufgegeben.
Die Gustav-Adolf-Kirche in Hannover ist seit 2009 eine Synagoge. In Bielefeld wurde 2005 die Martini-Kirche als Restaurant neu eröffnet, und in Mecklenburg-Vorpommern ist aus einer Klosterkirche ein Orgelmuseum geworden. Expertin Kerstin Gothe empfiehlt Gemeinden, sich früh um Kooperationen mit Vereinen oder der öffentlichen Hand zu bemühen, um gemeinsam zu überlegen, wie man Kirchen erhalten könne. Zurzeit stünden viele von ihnen einfach leer. Aber: "Wenn es anfängt, durchs Dach hereinzuregnen, ist es für gut durchdachte Lösungen oft zu spät."
Das konnte in Göttingen verhindert werden. Marianne Mühlenberg, Vorsitzende des Vereins "Filmkunstfreunde Göttingen", freut sich: "Es ist beglückend, dass der Kirchensaal in seiner Schönheit wieder einmal einem guten Zweck dient."