Die Flüchtlingspolitik der EU bezeichnete Martin als "politische Bankrotterklärung". Der türkische Präsident Erdogan habe die Geflüchteten seit dem Bestehen des EU-Türkei-Deals immer wieder instrumentalisiert. Nun wolle er militärische Hilfe durch EU und Nato für den türkische Syrien-Feldzug erpressen.
Martin mahnte, dass die geplante Abschottung der EU-Außengrenzen mit mehr Frontex-Einheiten oder griechischen Soldaten nichts bringen wird: "Die Menschen werden einen Weg nach Europa finden, so wie in der Vergangenheit auch - und sie werden dafür ihr Leben riskieren." Die türkische Regierung fahre die Geflüchteten zynischerweise ja sogar mit Bussen an die Grenze und fordere sie auf, in die EU zu gehen. Der Druck an der Grenze werde immer größer. Tausende harrten dort in humanitär völlig inakzeptablen Zuständen aus. "Hier ist konkrete und vor allem schnelle Hilfe gefordert", erläuterte der Oberkirchenrat.
Zum einen bräuchten die Geflüchteten an der Grenze sofort Essen, Zelte und Decken - im Anschluss müsse dort schnell eine behelfsmäßige Infrastruktur aufgebaut werden, auch mit Geld aus der gesamten EU. "Man kann die südlichen Länder der EU mit diesen Herausforderungen nicht alleine lassen", sagte Martin. Einzelne Regionen seien schon seit längerem überfordert mit der großen Menge an Geflüchteten - so zum Beispiel die griechische Insel Lesbos. "Wenn in einem Lager für 6.000 Menschen dann um die 20.000 leben, ist es klar, dass es früher oder später aus dem Ruder läuft." Die EU habe "zu lange zugesehen".
"Koalition der Willigen in Europa muss nun Druck aufbauen"
Nach den ersten humanitären Maßnahmen, die Europa mit dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR der Vereinten Nationen abstimmen sollte, müsse es um eine politische Lösung gehen. "Es gibt eine 'Koalition der Willigen' in Europa, die muss nun Druck aufbauen. Es muss Gespräche zwischen allen Beteiligten geben", sagte Martin. Gleichwohl sei es sehr unwahrscheinlich, dass der Bürgerkrieg in Syrien, der sich immer mehr zu einem weltweiten Stellvertreterkrieg ausgeweitet habe, jetzt schnell beendet werden kann. "Und wenn es keine einheitliche Lösung gibt, müssen einzelne EU-Länder helfen und Flüchtlinge aufnehmen."
Oberkirchenrat Martin erinnerte daran, dass die EU mehr sei als ein bloßer Wirtschaftsraum. Das vorhandene gemeinsame Wertefundament müsse nun aber endlich wieder mit Inhalten gefüllt und auch praktisch gelebt werden: "Die Politik muss jetzt handeln, wir dürfen dem Sterben der Menschen nicht weiter untätig zuschauen."